werden, und man darf die Urtheile nicht dem Schwanken und der Willkür der Deutung überlassen. Ferner aber denke ich mit Göthe: "Bescheidenheit gehört eigentlich nur für persönliche Ge- genwart... In alle freien schriftlichen Darstellungen gehört Wahr- heit, entweder in Bezug auf den Gegenstand oder in Bezug auf das Gefühl des Darstellenden, und, so Gott will, auf beides. Wer einen Schriftsteller, der sich und die Sache fühlt, nicht lesen mag, der darf überhaupt das Beste ungelesen lassen".
Becker erhält endlich seine Berechtigung durch den Gegen- satz, in welchem er zu seinen Zeitgenossen steht; und diese Be- rechtigung erstreckt sich, wiewohl mit geminderter Kraft, auch auf seine heutigen Anhänger. Denn wenn auch allerdings seit dem Erscheinen des Organism nicht bloß Humboldts letzte um- fassende Arbeit ans Licht getreten ist, sondern auch sämmtliche deutsche Sprachforscher ein tieferes Gefühl vom Wesen der Sprache in sich tragen, als Beckers Zeitgenossen hatten; so ist doch die alte Ansicht von einem reflectirenden Machen der Sprachen noch nicht völlig, noch nicht allgemein überwun- den; und einer so falschen Anschauung gegenüber muß ich dem Beckerschen Begriffe vom Organismus der Sprache, so mangel- haft er auch ist, seines Strebens wegen den Vorrang einräu- men. Die hier erwähnte, noch nicht ganz verschwundene An- sicht von einem über Mittel und Zweck der Sprache nachsin- nenden Machen der Sprachen hat neuerdings wieder ihren Aus- druck gefunden in einem Werke, das nicht verfehlen wird, die Aufmerksamkeit der Sprachforscher auf sich zu ziehen: Bun- sen, Outlines of the philosophy of universal history, applied to language and religion. London 1854. 2 voll. In diesem Werke sind lange Stücke von Hrn. Aufrecht und noch mehr von Hrn. Müller, dem Herausgeber des Rigveda; und er ist es, der das Recht der Beckerianer in unsern Augen klar darthut. Hr. Mül- ler nämlich theilt die Sprachen in drei Klassen ein (a. a. O. I. S. 281 ff.): Family-, Nomad- and State-Languages, welche ganz den Klassen der alten Eintheilung entsprechen: es sind nämlich die einsylbigen, agglutinirenden und flectirenden Spra- chen. Das Semitische und die sanskritischen Sprachen bilden die dritte Klasse, zu der auch das Aegyptische gehört, das nur
werden, und man darf die Urtheile nicht dem Schwanken und der Willkür der Deutung überlassen. Ferner aber denke ich mit Göthe: „Bescheidenheit gehört eigentlich nur für persönliche Ge- genwart… In alle freien schriftlichen Darstellungen gehört Wahr- heit, entweder in Bezug auf den Gegenstand oder in Bezug auf das Gefühl des Darstellenden, und, so Gott will, auf beides. Wer einen Schriftsteller, der sich und die Sache fühlt, nicht lesen mag, der darf überhaupt das Beste ungelesen lassen“.
Becker erhält endlich seine Berechtigung durch den Gegen- satz, in welchem er zu seinen Zeitgenossen steht; und diese Be- rechtigung erstreckt sich, wiewohl mit geminderter Kraft, auch auf seine heutigen Anhänger. Denn wenn auch allerdings seit dem Erscheinen des Organism nicht bloß Humboldts letzte um- fassende Arbeit ans Licht getreten ist, sondern auch sämmtliche deutsche Sprachforscher ein tieferes Gefühl vom Wesen der Sprache in sich tragen, als Beckers Zeitgenossen hatten; so ist doch die alte Ansicht von einem reflectirenden Machen der Sprachen noch nicht völlig, noch nicht allgemein überwun- den; und einer so falschen Anschauung gegenüber muß ich dem Beckerschen Begriffe vom Organismus der Sprache, so mangel- haft er auch ist, seines Strebens wegen den Vorrang einräu- men. Die hier erwähnte, noch nicht ganz verschwundene An- sicht von einem über Mittel und Zweck der Sprache nachsin- nenden Machen der Sprachen hat neuerdings wieder ihren Aus- druck gefunden in einem Werke, das nicht verfehlen wird, die Aufmerksamkeit der Sprachforscher auf sich zu ziehen: Bun- sen, Outlines of the philosophy of universal history, applied to language and religion. London 1854. 2 voll. In diesem Werke sind lange Stücke von Hrn. Aufrecht und noch mehr von Hrn. Müller, dem Herausgeber des Rigveda; und er ist es, der das Recht der Beckerianer in unsern Augen klar darthut. Hr. Mül- ler nämlich theilt die Sprachen in drei Klassen ein (a. a. O. I. S. 281 ff.): Family-, Nomad- and State-Languages, welche ganz den Klassen der alten Eintheilung entsprechen: es sind nämlich die einsylbigen, agglutinirenden und flectirenden Spra- chen. Das Semitische und die sanskritischen Sprachen bilden die dritte Klasse, zu der auch das Aegyptische gehört, das nur
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[IX/0015]
werden, und man darf die Urtheile nicht dem Schwanken und
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Göthe: „Bescheidenheit gehört eigentlich nur für persönliche Ge-
genwart… In alle freien schriftlichen Darstellungen gehört Wahr-
heit, entweder in Bezug auf den Gegenstand oder in Bezug
auf das Gefühl des Darstellenden, und, so Gott will, auf beides.
Wer einen Schriftsteller, der sich und die Sache fühlt, nicht
lesen mag, der darf überhaupt das Beste ungelesen lassen“.
Becker erhält endlich seine Berechtigung durch den Gegen-
satz, in welchem er zu seinen Zeitgenossen steht; und diese Be-
rechtigung erstreckt sich, wiewohl mit geminderter Kraft, auch
auf seine heutigen Anhänger. Denn wenn auch allerdings seit
dem Erscheinen des Organism nicht bloß Humboldts letzte um-
fassende Arbeit ans Licht getreten ist, sondern auch sämmtliche
deutsche Sprachforscher ein tieferes Gefühl vom Wesen der
Sprache in sich tragen, als Beckers Zeitgenossen hatten; so ist
doch die alte Ansicht von einem reflectirenden Machen
der Sprachen noch nicht völlig, noch nicht allgemein überwun-
den; und einer so falschen Anschauung gegenüber muß ich dem
Beckerschen Begriffe vom Organismus der Sprache, so mangel-
haft er auch ist, seines Strebens wegen den Vorrang einräu-
men. Die hier erwähnte, noch nicht ganz verschwundene An-
sicht von einem über Mittel und Zweck der Sprache nachsin-
nenden Machen der Sprachen hat neuerdings wieder ihren Aus-
druck gefunden in einem Werke, das nicht verfehlen wird, die
Aufmerksamkeit der Sprachforscher auf sich zu ziehen: Bun-
sen, Outlines of the philosophy of universal history, applied to
language and religion. London 1854. 2 voll. In diesem Werke
sind lange Stücke von Hrn. Aufrecht und noch mehr von Hrn.
Müller, dem Herausgeber des Rigveda; und er ist es, der das
Recht der Beckerianer in unsern Augen klar darthut. Hr. Mül-
ler nämlich theilt die Sprachen in drei Klassen ein (a. a. O.
I. S. 281 ff.): Family-, Nomad- and State-Languages, welche
ganz den Klassen der alten Eintheilung entsprechen: es sind
nämlich die einsylbigen, agglutinirenden und flectirenden Spra-
chen. Das Semitische und die sanskritischen Sprachen bilden
die dritte Klasse, zu der auch das Aegyptische gehört, das nur
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/15>, abgerufen am 21.11.2024.
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