Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

eine frühe Abzweigung des Semitischen sein soll. Zur ersten
Klasse gehört das Chinesische; alle übrigen Sprachen der Erde
sollen Nomaden- oder Turanische Sprachen sein. Alle Spra-
chen aber stammen von einer Mutter. Nämlich, so lautet der
ganz naive Mythos des Hrn. Müller (das. I. S. 310), vor vielen
Jahrtausenden, oder Kalpas, lebte ein Mann, oder ein König
-- denn er und seine Familie waren noch die einzigen Men-
schen --, genannt Feridun. Er hatte drei Söhne, Tur, Si-
lim
und Irij. Der Mann hatte die Sündfluth durchlebt, und in
seinem Hause sprach man nicht mehr die antediluvianische Spra-
che, welche bloß aus Wurzeln bestand (das. S. 487). Wie der
Mythos dies meint, weiß ich nicht. Denn diese antediluviani-
sche Sprache soll zwar eine andere sein als die Familiensprache
d. h. die Sprache in der Familie Feriduns, in welcher aber doch
auch nur "Juxtaposition" herrschte, wie heute noch im Chine-
sischen, wo also Wurzel neben Wurzel gestellt wird; und we-
niger als dies können doch auch die antediluvianischen Men-
schen nicht gethan haben. Wir dürfen indeß vom Müllerschen
Mythos nicht mehr Klarheit erwarten, als von jedem andern,
deutschen oder indischen oder persischen. Verfolgen wir also
nur den Mythos weiter. Feriduns Söhne verließen das väter-
liche Haus, um sich auf die Wanderschaft zu begeben. Was
wird nun aus der Sprache, die sie am heimathlichen Herde ge-
lernt hatten? Hören wir den Mythos in seinem heiligen Urtexte,
da zu fürchten steht, daß durch eine Uebersetzung in unser ab-
stractes Deutsch, seine ganze Naivität verwischt werde (das.
S. 310): "What they carried away from home were roots and
pronouns. Two of them, Silim and Irij seem both to have held
the secret how a root could be divided and changed so that
it might be used as a subject or as a predicate. Tur also may
have known it; but he either forgot it, or he did not like to
tamper with those sacred relics which he had carried away from
his father's house ... Now there were at least four things
which Tur had to express with his roots and pronouns. If he
possessed a root for cutting, he wanted to say, I cut (present);
I cut (past); cutter i. e. knife, and my cutter i. e. my knife.
These four little phrases were indispensable for him, if he wished

eine frühe Abzweigung des Semitischen sein soll. Zur ersten
Klasse gehört das Chinesische; alle übrigen Sprachen der Erde
sollen Nomaden- oder Turanische Sprachen sein. Alle Spra-
chen aber stammen von einer Mutter. Nämlich, so lautet der
ganz naive Mythos des Hrn. Müller (das. I. S. 310), vor vielen
Jahrtausenden, oder Kalpas, lebte ein Mann, oder ein König
— denn er und seine Familie waren noch die einzigen Men-
schen —, genannt Feridun. Er hatte drei Söhne, Tur, Si-
lim
und Irij. Der Mann hatte die Sündfluth durchlebt, und in
seinem Hause sprach man nicht mehr die antediluvianische Spra-
che, welche bloß aus Wurzeln bestand (das. S. 487). Wie der
Mythos dies meint, weiß ich nicht. Denn diese antediluviani-
sche Sprache soll zwar eine andere sein als die Familiensprache
d. h. die Sprache in der Familie Feriduns, in welcher aber doch
auch nur „Juxtaposition“ herrschte, wie heute noch im Chine-
sischen, wo also Wurzel neben Wurzel gestellt wird; und we-
niger als dies können doch auch die antediluvianischen Men-
schen nicht gethan haben. Wir dürfen indeß vom Müllerschen
Mythos nicht mehr Klarheit erwarten, als von jedem andern,
deutschen oder indischen oder persischen. Verfolgen wir also
nur den Mythos weiter. Feriduns Söhne verließen das väter-
liche Haus, um sich auf die Wanderschaft zu begeben. Was
wird nun aus der Sprache, die sie am heimathlichen Herde ge-
lernt hatten? Hören wir den Mythos in seinem heiligen Urtexte,
da zu fürchten steht, daß durch eine Uebersetzung in unser ab-
stractes Deutsch, seine ganze Naivität verwischt werde (das.
S. 310): „What they carried away from home were roots and
pronouns. Two of them, Silim and Irij seem both to have held
the secret how a root could be divided and changed so that
it might be used as a subject or as a predicate. Tur also may
have known it; but he either forgot it, or he did not like to
tamper with those sacred relics which he had carried away from
his father’s house … Now there were at least four things
which Tur had to express with his roots and pronouns. If he
possessed a root for cutting, he wanted to say, I cut (present);
I cut (past); cutter i. e. knife, and my cutter i. e. my knife.
These four little phrases were indispensable for him, if he wished

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0016" n="X"/>
eine frühe Abzweigung des Semitischen sein soll. Zur ersten<lb/>
Klasse gehört das Chinesische; alle übrigen Sprachen der Erde<lb/>
sollen Nomaden- oder <hi rendition="#g">Turanische</hi> Sprachen sein. Alle Spra-<lb/>
chen aber stammen von <hi rendition="#g">einer</hi> Mutter. Nämlich, so lautet der<lb/>
ganz naive Mythos des Hrn. Müller (das. I. S. 310), vor vielen<lb/>
Jahrtausenden, oder Kalpas, lebte ein Mann, oder ein König<lb/>
&#x2014; denn er und seine Familie waren noch die einzigen Men-<lb/>
schen &#x2014;, genannt <hi rendition="#g">Feridun</hi>. Er hatte drei Söhne, <hi rendition="#g">Tur, Si-<lb/>
lim</hi> und <hi rendition="#g">Irij</hi>. Der Mann hatte die Sündfluth durchlebt, und in<lb/>
seinem Hause sprach man nicht mehr die antediluvianische Spra-<lb/>
che, welche bloß aus Wurzeln bestand (das. S. 487). Wie der<lb/>
Mythos dies meint, weiß ich nicht. Denn diese antediluviani-<lb/>
sche Sprache soll zwar eine andere sein als die Familiensprache<lb/>
d. h. die Sprache in der Familie Feriduns, in welcher aber doch<lb/>
auch nur &#x201E;Juxtaposition&#x201C; herrschte, wie heute noch im Chine-<lb/>
sischen, wo also Wurzel neben Wurzel gestellt wird; und we-<lb/>
niger als dies können doch auch die antediluvianischen Men-<lb/>
schen nicht gethan haben. Wir dürfen indeß vom Müllerschen<lb/>
Mythos nicht mehr Klarheit erwarten, als von jedem andern,<lb/>
deutschen oder indischen oder persischen. Verfolgen wir also<lb/>
nur den Mythos weiter. Feriduns Söhne verließen das väter-<lb/>
liche Haus, um sich auf die Wanderschaft zu begeben. Was<lb/>
wird nun aus der Sprache, die sie am heimathlichen Herde ge-<lb/>
lernt hatten? Hören wir den Mythos in seinem heiligen Urtexte,<lb/>
da zu fürchten steht, daß durch eine Uebersetzung in unser ab-<lb/>
stractes Deutsch, seine ganze Naivität verwischt werde (das.<lb/>
S. 310): &#x201E;What they carried away from home were roots and<lb/>
pronouns. Two of them, Silim and Irij seem both to have held<lb/>
the secret how a root could be divided and changed so that<lb/>
it might be used as a subject or as a predicate. Tur also may<lb/>
have known it; but he either forgot it, or he did not like to<lb/>
tamper with those sacred relics which he had carried away from<lb/>
his father&#x2019;s house &#x2026; Now there were at least four things<lb/>
which Tur had to express with his roots and pronouns. If he<lb/>
possessed a root for cutting, he wanted to say, I cut (present);<lb/>
I cut (past); cutter i. e. knife, and my cutter i. e. my knife.<lb/>
These four little phrases were indispensable for him, if he wished<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[X/0016] eine frühe Abzweigung des Semitischen sein soll. Zur ersten Klasse gehört das Chinesische; alle übrigen Sprachen der Erde sollen Nomaden- oder Turanische Sprachen sein. Alle Spra- chen aber stammen von einer Mutter. Nämlich, so lautet der ganz naive Mythos des Hrn. Müller (das. I. S. 310), vor vielen Jahrtausenden, oder Kalpas, lebte ein Mann, oder ein König — denn er und seine Familie waren noch die einzigen Men- schen —, genannt Feridun. Er hatte drei Söhne, Tur, Si- lim und Irij. Der Mann hatte die Sündfluth durchlebt, und in seinem Hause sprach man nicht mehr die antediluvianische Spra- che, welche bloß aus Wurzeln bestand (das. S. 487). Wie der Mythos dies meint, weiß ich nicht. Denn diese antediluviani- sche Sprache soll zwar eine andere sein als die Familiensprache d. h. die Sprache in der Familie Feriduns, in welcher aber doch auch nur „Juxtaposition“ herrschte, wie heute noch im Chine- sischen, wo also Wurzel neben Wurzel gestellt wird; und we- niger als dies können doch auch die antediluvianischen Men- schen nicht gethan haben. Wir dürfen indeß vom Müllerschen Mythos nicht mehr Klarheit erwarten, als von jedem andern, deutschen oder indischen oder persischen. Verfolgen wir also nur den Mythos weiter. Feriduns Söhne verließen das väter- liche Haus, um sich auf die Wanderschaft zu begeben. Was wird nun aus der Sprache, die sie am heimathlichen Herde ge- lernt hatten? Hören wir den Mythos in seinem heiligen Urtexte, da zu fürchten steht, daß durch eine Uebersetzung in unser ab- stractes Deutsch, seine ganze Naivität verwischt werde (das. S. 310): „What they carried away from home were roots and pronouns. Two of them, Silim and Irij seem both to have held the secret how a root could be divided and changed so that it might be used as a subject or as a predicate. Tur also may have known it; but he either forgot it, or he did not like to tamper with those sacred relics which he had carried away from his father’s house … Now there were at least four things which Tur had to express with his roots and pronouns. If he possessed a root for cutting, he wanted to say, I cut (present); I cut (past); cutter i. e. knife, and my cutter i. e. my knife. These four little phrases were indispensable for him, if he wished

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/16
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. X. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/16>, abgerufen am 21.11.2024.