Vater. Trendelenburg möchte dies läugnen. Indessen alles was er zur Unterscheidung der aristotelischen und formalen Logik vorbringt, beweist keine wesentliche Verschiedenheit, noch we- niger etwa einen Rückschritt der formalen Logik, wenn man ihre heutige Bearbeitung mit der aristotelischen vergleicht. Die Schei- dung und Reinigung der Wissenschaften hat sich überhaupt seit Aristoteles weiter ausgebildet, und so hat sich auch die Logik strenger begrenzt und ist endlich rein formal geworden. So streng formal war sie bei Aristoteles noch nicht, der noch nicht einmal die Grammatik von ihr abgeschieden hat; aber die Ten- denz zu ihrem reinen Formalismus war ihr schon von Aristo- teles eingehaucht. Die formale Logik ist die Frucht seines Sa- mens. Wir fordern mit Kant und Herbart strenge Abgrenzung der wissenschaftlichen Gebiete, mindestens strenge begriffliche Absonderung. Auch Göthe wollen wir hören, den Trendelen- burg vielleicht noch höher schätzt (Propyläen, Einleitung): "Die Künste selbst, so wie ihre Arten, sind unter einander verwandt, sie haben eine gewisse Neigung, sich zu vereinigen, ja sich in einander zu verlieren" -- gerade wie die Wissenschaften --; "aber eben darin besteht die Pflicht, das Verdienst, die Würde des echten Künstlers, daß er das Kunstfach, in welchem er ar- beitet, von andern abzusondern, jede Kunst und Kunstart auf sich selbst zu stellen und sie aufs möglichste zu isoliren wisse." Und in der Wissenschaft sollte es anders sein?
Bleiben wir also bei der formalen Natur der Logik, so ha- ben wir in ihr abermals einen Unterschied gegen die Gramma- tik. Auch sie zwar ist formal, in so fern sie nicht den Inhalt der Rede, sondern nur die sprachliche Form betrachtet. Aber im Verhältniß zur Logik ist die Grammatik, wie die reine Ma- thematik, schon etwas Materiales, indem in beiden ganz bestimmte Denkprocesse vorkommen, welche sich als ein bestimmter Inhalt in logischer Form offenbaren. Die sprachliche Form ist ein Stoff, eine besondere Anwendung und Verkörperung der logi- schen Form. Daher steht die Grammatik, wie jede andere Wis- senschaft, unter der Logik und ist in keiner Weise mit ihr iden- tisch.
Diese hier im Allgemeinen begründete Verschiedenheit zwi- schen Grammatik und Logik wollen wir nun in der schon an- gegebenen Weise ins Einzelne verfolgen.
Vater. Trendelenburg möchte dies läugnen. Indessen alles was er zur Unterscheidung der aristotelischen und formalen Logik vorbringt, beweist keine wesentliche Verschiedenheit, noch we- niger etwa einen Rückschritt der formalen Logik, wenn man ihre heutige Bearbeitung mit der aristotelischen vergleicht. Die Schei- dung und Reinigung der Wissenschaften hat sich überhaupt seit Aristoteles weiter ausgebildet, und so hat sich auch die Logik strenger begrenzt und ist endlich rein formal geworden. So streng formal war sie bei Aristoteles noch nicht, der noch nicht einmal die Grammatik von ihr abgeschieden hat; aber die Ten- denz zu ihrem reinen Formalismus war ihr schon von Aristo- teles eingehaucht. Die formale Logik ist die Frucht seines Sa- mens. Wir fordern mit Kant und Herbart strenge Abgrenzung der wissenschaftlichen Gebiete, mindestens strenge begriffliche Absonderung. Auch Göthe wollen wir hören, den Trendelen- burg vielleicht noch höher schätzt (Propyläen, Einleitung): „Die Künste selbst, so wie ihre Arten, sind unter einander verwandt, sie haben eine gewisse Neigung, sich zu vereinigen, ja sich in einander zu verlieren“ — gerade wie die Wissenschaften —; „aber eben darin besteht die Pflicht, das Verdienst, die Würde des echten Künstlers, daß er das Kunstfach, in welchem er ar- beitet, von andern abzusondern, jede Kunst und Kunstart auf sich selbst zu stellen und sie aufs möglichste zu isoliren wisse.“ Und in der Wissenschaft sollte es anders sein?
Bleiben wir also bei der formalen Natur der Logik, so ha- ben wir in ihr abermals einen Unterschied gegen die Gramma- tik. Auch sie zwar ist formal, in so fern sie nicht den Inhalt der Rede, sondern nur die sprachliche Form betrachtet. Aber im Verhältniß zur Logik ist die Grammatik, wie die reine Ma- thematik, schon etwas Materiales, indem in beiden ganz bestimmte Denkprocesse vorkommen, welche sich als ein bestimmter Inhalt in logischer Form offenbaren. Die sprachliche Form ist ein Stoff, eine besondere Anwendung und Verkörperung der logi- schen Form. Daher steht die Grammatik, wie jede andere Wis- senschaft, unter der Logik und ist in keiner Weise mit ihr iden- tisch.
Diese hier im Allgemeinen begründete Verschiedenheit zwi- schen Grammatik und Logik wollen wir nun in der schon an- gegebenen Weise ins Einzelne verfolgen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0189"n="151"/>
Vater. Trendelenburg möchte dies läugnen. Indessen alles was<lb/>
er zur Unterscheidung der aristotelischen und formalen Logik<lb/>
vorbringt, beweist keine wesentliche Verschiedenheit, noch we-<lb/>
niger etwa einen Rückschritt der formalen Logik, wenn man ihre<lb/>
heutige Bearbeitung mit der aristotelischen vergleicht. Die Schei-<lb/>
dung und Reinigung der Wissenschaften hat sich überhaupt seit<lb/>
Aristoteles weiter ausgebildet, und so hat sich auch die Logik<lb/>
strenger begrenzt und ist endlich rein formal geworden. So<lb/>
streng formal war sie bei Aristoteles noch nicht, der noch nicht<lb/>
einmal die Grammatik von ihr abgeschieden hat; aber die Ten-<lb/>
denz zu ihrem reinen Formalismus war ihr schon von Aristo-<lb/>
teles eingehaucht. Die formale Logik ist die Frucht seines Sa-<lb/>
mens. Wir fordern mit Kant und Herbart strenge Abgrenzung<lb/>
der wissenschaftlichen Gebiete, mindestens strenge <hirendition="#g">begriffliche</hi><lb/>
Absonderung. Auch Göthe wollen wir hören, den Trendelen-<lb/>
burg vielleicht noch höher schätzt (Propyläen, Einleitung): „Die<lb/>
Künste selbst, so wie ihre Arten, sind unter einander <hirendition="#g">verwandt</hi>,<lb/>
sie haben eine gewisse Neigung, sich zu vereinigen, ja sich in<lb/>
einander zu verlieren“— gerade wie die Wissenschaften —;<lb/>„aber eben darin besteht die Pflicht, das Verdienst, die Würde<lb/>
des echten Künstlers, daß er das Kunstfach, in welchem er ar-<lb/>
beitet, von andern abzusondern, jede Kunst und Kunstart auf<lb/>
sich selbst zu stellen und sie aufs möglichste zu isoliren wisse.“<lb/>
Und in der Wissenschaft sollte es anders sein?</p><lb/><p>Bleiben wir also bei der formalen Natur der Logik, so ha-<lb/>
ben wir in ihr abermals einen Unterschied gegen die Gramma-<lb/>
tik. Auch sie zwar ist formal, in so fern sie nicht den Inhalt<lb/>
der Rede, sondern nur die sprachliche Form betrachtet. Aber<lb/>
im Verhältniß zur Logik ist die Grammatik, wie die reine Ma-<lb/>
thematik, schon etwas Materiales, indem in beiden ganz bestimmte<lb/>
Denkprocesse vorkommen, welche sich als ein bestimmter Inhalt<lb/>
in logischer Form offenbaren. Die sprachliche Form ist ein<lb/>
Stoff, eine besondere Anwendung und Verkörperung der logi-<lb/>
schen Form. Daher steht die Grammatik, wie jede andere Wis-<lb/>
senschaft, unter der Logik und ist in keiner Weise mit ihr iden-<lb/>
tisch.</p><lb/><p>Diese hier im Allgemeinen begründete Verschiedenheit zwi-<lb/>
schen Grammatik und Logik wollen wir nun in der schon an-<lb/>
gegebenen Weise ins Einzelne verfolgen.</p></div></div></div><lb/></div></body></text></TEI>
[151/0189]
Vater. Trendelenburg möchte dies läugnen. Indessen alles was
er zur Unterscheidung der aristotelischen und formalen Logik
vorbringt, beweist keine wesentliche Verschiedenheit, noch we-
niger etwa einen Rückschritt der formalen Logik, wenn man ihre
heutige Bearbeitung mit der aristotelischen vergleicht. Die Schei-
dung und Reinigung der Wissenschaften hat sich überhaupt seit
Aristoteles weiter ausgebildet, und so hat sich auch die Logik
strenger begrenzt und ist endlich rein formal geworden. So
streng formal war sie bei Aristoteles noch nicht, der noch nicht
einmal die Grammatik von ihr abgeschieden hat; aber die Ten-
denz zu ihrem reinen Formalismus war ihr schon von Aristo-
teles eingehaucht. Die formale Logik ist die Frucht seines Sa-
mens. Wir fordern mit Kant und Herbart strenge Abgrenzung
der wissenschaftlichen Gebiete, mindestens strenge begriffliche
Absonderung. Auch Göthe wollen wir hören, den Trendelen-
burg vielleicht noch höher schätzt (Propyläen, Einleitung): „Die
Künste selbst, so wie ihre Arten, sind unter einander verwandt,
sie haben eine gewisse Neigung, sich zu vereinigen, ja sich in
einander zu verlieren“ — gerade wie die Wissenschaften —;
„aber eben darin besteht die Pflicht, das Verdienst, die Würde
des echten Künstlers, daß er das Kunstfach, in welchem er ar-
beitet, von andern abzusondern, jede Kunst und Kunstart auf
sich selbst zu stellen und sie aufs möglichste zu isoliren wisse.“
Und in der Wissenschaft sollte es anders sein?
Bleiben wir also bei der formalen Natur der Logik, so ha-
ben wir in ihr abermals einen Unterschied gegen die Gramma-
tik. Auch sie zwar ist formal, in so fern sie nicht den Inhalt
der Rede, sondern nur die sprachliche Form betrachtet. Aber
im Verhältniß zur Logik ist die Grammatik, wie die reine Ma-
thematik, schon etwas Materiales, indem in beiden ganz bestimmte
Denkprocesse vorkommen, welche sich als ein bestimmter Inhalt
in logischer Form offenbaren. Die sprachliche Form ist ein
Stoff, eine besondere Anwendung und Verkörperung der logi-
schen Form. Daher steht die Grammatik, wie jede andere Wis-
senschaft, unter der Logik und ist in keiner Weise mit ihr iden-
tisch.
Diese hier im Allgemeinen begründete Verschiedenheit zwi-
schen Grammatik und Logik wollen wir nun in der schon an-
gegebenen Weise ins Einzelne verfolgen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/189>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.