über seinen Gesichtskreis hinaus liegenden Fragen im hellsten Lichte zeigt, mit der seinen großen Verdiensten gebührenden achtungsvollen Rücksicht behandelt. Wenn er aber jetzt die Werke meines verehrten Lehrers und Freundes, dessen Streben er verkennt, weil es auf ein ihm fremdes Ziel gerichtet ist, nicht bloß, wie bisher, gänzlich ignorirt, sondern geringschätzig verur- theilt: so wird mir kein Unparteiischer verargen, daß ich ihm entschieden entgegentrete.
Ich kann aber noch nichts Näheres über Heyses Ansicht sa- gen, so lange sie nicht der Oeffentlichkeit angehört. Nur muß ich ausdrücklich bemerken, daß, so oft ich allgemein von der bisherigen Grammatik rede, Heyse nicht mit eingeschlos- sen ist.
Es liegt mir nun an, einiges über das Motto dieses Buches zu sagen. "Denken ist schwer": das ist der Wahl- oder Warn- spruch der Kritik, wie ich sie verstehe, und welche ich von der Kritik einer gewissen Partei der Sprachforscher geschieden wis- sen will. Um nicht im Dunkel zu lassen, was und wen ich meine, so will ich einen Vertreter dieser Partei nennen, den sie wohl als solchen wird gelten lassen: Herrn Dr. Aufrecht. Auch will ich sogleich auf eine specielle Aeußerung Rücksicht nehmen.
Wir waren so glücklich, siebenzehn Jahre nach dem Tode Humboldts noch ein ungeahntes posthumes Werk von ihm zu erhalten, wenn es auch nur ein Brief ist. Wir meinen den in der Zeitschr. f. vergl. Sprfschg. von Aufrecht und Kuhn Bd. II. abgedruckten Brief über den Infinitiv. Nun stimmt freilich kein Wort Humboldts zur Tendenz jener Zeitschrift. Die Aufnahme des Briefes mußte entschuldigt werden; und dies geschieht durch folgende Vorbemerkung des Hrn. Aufrecht: "Wie die Naturwis- senschaften erst seit der Zeit zu reichster Entfaltung gelangt sind, seitdem das Experiment in die einzelnen Disciplinen der- selben eingeführt wurde." -- Seit wann mag denn wohl letzteres geschehen sein? ersteres natürlich erst in unserm Jahrhunderte; auch letzteres? Hr. Aufrecht will uns dies glauben machen! Wer wird ihm folgen? Der müßte z. B. nicht bedenken, daß die Chemie als Wissenschaft noch nicht seit einem Jahrhundert exi-
über seinen Gesichtskreis hinaus liegenden Fragen im hellsten Lichte zeigt, mit der seinen großen Verdiensten gebührenden achtungsvollen Rücksicht behandelt. Wenn er aber jetzt die Werke meines verehrten Lehrers und Freundes, dessen Streben er verkennt, weil es auf ein ihm fremdes Ziel gerichtet ist, nicht bloß, wie bisher, gänzlich ignorirt, sondern geringschätzig verur- theilt: so wird mir kein Unparteiischer verargen, daß ich ihm entschieden entgegentrete.
Ich kann aber noch nichts Näheres über Heyses Ansicht sa- gen, so lange sie nicht der Oeffentlichkeit angehört. Nur muß ich ausdrücklich bemerken, daß, so oft ich allgemein von der bisherigen Grammatik rede, Heyse nicht mit eingeschlos- sen ist.
Es liegt mir nun an, einiges über das Motto dieses Buches zu sagen. „Denken ist schwer“: das ist der Wahl- oder Warn- spruch der Kritik, wie ich sie verstehe, und welche ich von der Kritik einer gewissen Partei der Sprachforscher geschieden wis- sen will. Um nicht im Dunkel zu lassen, was und wen ich meine, so will ich einen Vertreter dieser Partei nennen, den sie wohl als solchen wird gelten lassen: Herrn Dr. Aufrecht. Auch will ich sogleich auf eine specielle Aeußerung Rücksicht nehmen.
Wir waren so glücklich, siebenzehn Jahre nach dem Tode Humboldts noch ein ungeahntes posthumes Werk von ihm zu erhalten, wenn es auch nur ein Brief ist. Wir meinen den in der Zeitschr. f. vergl. Sprfschg. von Aufrecht und Kuhn Bd. II. abgedruckten Brief über den Infinitiv. Nun stimmt freilich kein Wort Humboldts zur Tendenz jener Zeitschrift. Die Aufnahme des Briefes mußte entschuldigt werden; und dies geschieht durch folgende Vorbemerkung des Hrn. Aufrecht: „Wie die Naturwis- senschaften erst seit der Zeit zu reichster Entfaltung gelangt sind, seitdem das Experiment in die einzelnen Disciplinen der- selben eingeführt wurde.“ — Seit wann mag denn wohl letzteres geschehen sein? ersteres natürlich erst in unserm Jahrhunderte; auch letzteres? Hr. Aufrecht will uns dies glauben machen! Wer wird ihm folgen? Der müßte z. B. nicht bedenken, daß die Chemie als Wissenschaft noch nicht seit einem Jahrhundert exi-
<TEI><text><front><divn="1"><p><pbfacs="#f0020"n="XIV"/>
über seinen Gesichtskreis hinaus liegenden Fragen im hellsten<lb/>
Lichte zeigt, mit der seinen großen Verdiensten gebührenden<lb/>
achtungsvollen Rücksicht behandelt. Wenn er aber jetzt die<lb/>
Werke meines verehrten Lehrers und Freundes, dessen Streben<lb/>
er verkennt, weil es auf ein ihm fremdes Ziel gerichtet ist, nicht<lb/>
bloß, wie bisher, gänzlich ignorirt, sondern geringschätzig verur-<lb/>
theilt: so wird mir kein Unparteiischer verargen, daß ich ihm<lb/>
entschieden entgegentrete.</p><lb/><p>Ich kann aber noch nichts Näheres über Heyses Ansicht sa-<lb/>
gen, so lange sie nicht der Oeffentlichkeit angehört. Nur muß<lb/>
ich ausdrücklich bemerken, daß, so oft ich allgemein von<lb/>
der bisherigen Grammatik rede, Heyse <hirendition="#g">nicht</hi> mit eingeschlos-<lb/>
sen ist.</p><lb/><p>Es liegt mir nun an, einiges über das Motto dieses Buches<lb/>
zu sagen. „Denken ist schwer“: das ist der Wahl- oder Warn-<lb/>
spruch der Kritik, wie ich sie verstehe, und welche ich von der<lb/>
Kritik einer gewissen Partei der Sprachforscher geschieden wis-<lb/>
sen will. Um nicht im Dunkel zu lassen, was und wen ich<lb/>
meine, so will ich einen Vertreter dieser Partei nennen, den sie<lb/>
wohl als solchen wird gelten lassen: Herrn Dr. <hirendition="#g">Aufrecht</hi>.<lb/>
Auch will ich sogleich auf eine specielle Aeußerung Rücksicht<lb/>
nehmen.</p><lb/><p>Wir waren so glücklich, siebenzehn Jahre nach dem Tode<lb/>
Humboldts noch ein ungeahntes posthumes Werk von ihm zu<lb/>
erhalten, wenn es auch nur ein Brief ist. Wir meinen den in<lb/>
der Zeitschr. f. vergl. Sprfschg. von Aufrecht und Kuhn Bd. II.<lb/>
abgedruckten Brief über den Infinitiv. Nun stimmt freilich kein<lb/>
Wort Humboldts zur Tendenz jener Zeitschrift. Die Aufnahme<lb/>
des Briefes mußte entschuldigt werden; und dies geschieht durch<lb/>
folgende Vorbemerkung des Hrn. Aufrecht: „Wie die Naturwis-<lb/>
senschaften erst seit der Zeit zu reichster Entfaltung gelangt<lb/>
sind, seitdem das Experiment in die einzelnen Disciplinen der-<lb/>
selben eingeführt wurde.“— Seit wann mag denn wohl letzteres<lb/>
geschehen sein? ersteres natürlich erst in unserm Jahrhunderte;<lb/>
auch letzteres? Hr. Aufrecht will uns dies glauben machen! Wer<lb/>
wird ihm folgen? Der müßte z. B. nicht bedenken, daß die<lb/>
Chemie als Wissenschaft noch nicht seit einem Jahrhundert exi-<lb/></p></div></front></text></TEI>
[XIV/0020]
über seinen Gesichtskreis hinaus liegenden Fragen im hellsten
Lichte zeigt, mit der seinen großen Verdiensten gebührenden
achtungsvollen Rücksicht behandelt. Wenn er aber jetzt die
Werke meines verehrten Lehrers und Freundes, dessen Streben
er verkennt, weil es auf ein ihm fremdes Ziel gerichtet ist, nicht
bloß, wie bisher, gänzlich ignorirt, sondern geringschätzig verur-
theilt: so wird mir kein Unparteiischer verargen, daß ich ihm
entschieden entgegentrete.
Ich kann aber noch nichts Näheres über Heyses Ansicht sa-
gen, so lange sie nicht der Oeffentlichkeit angehört. Nur muß
ich ausdrücklich bemerken, daß, so oft ich allgemein von
der bisherigen Grammatik rede, Heyse nicht mit eingeschlos-
sen ist.
Es liegt mir nun an, einiges über das Motto dieses Buches
zu sagen. „Denken ist schwer“: das ist der Wahl- oder Warn-
spruch der Kritik, wie ich sie verstehe, und welche ich von der
Kritik einer gewissen Partei der Sprachforscher geschieden wis-
sen will. Um nicht im Dunkel zu lassen, was und wen ich
meine, so will ich einen Vertreter dieser Partei nennen, den sie
wohl als solchen wird gelten lassen: Herrn Dr. Aufrecht.
Auch will ich sogleich auf eine specielle Aeußerung Rücksicht
nehmen.
Wir waren so glücklich, siebenzehn Jahre nach dem Tode
Humboldts noch ein ungeahntes posthumes Werk von ihm zu
erhalten, wenn es auch nur ein Brief ist. Wir meinen den in
der Zeitschr. f. vergl. Sprfschg. von Aufrecht und Kuhn Bd. II.
abgedruckten Brief über den Infinitiv. Nun stimmt freilich kein
Wort Humboldts zur Tendenz jener Zeitschrift. Die Aufnahme
des Briefes mußte entschuldigt werden; und dies geschieht durch
folgende Vorbemerkung des Hrn. Aufrecht: „Wie die Naturwis-
senschaften erst seit der Zeit zu reichster Entfaltung gelangt
sind, seitdem das Experiment in die einzelnen Disciplinen der-
selben eingeführt wurde.“ — Seit wann mag denn wohl letzteres
geschehen sein? ersteres natürlich erst in unserm Jahrhunderte;
auch letzteres? Hr. Aufrecht will uns dies glauben machen! Wer
wird ihm folgen? Der müßte z. B. nicht bedenken, daß die
Chemie als Wissenschaft noch nicht seit einem Jahrhundert exi-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. XIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/20>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.