ist aber keineswegs so. Es muß gezweifelt werden, ob der Zweifel gründlich, werth- und gehaltvoll ist; ob er zu einer wirkli- chen That des Denkens geworden, oder bloßes Wort, bloßer abstracter Vorsatz geblieben ist: das treibt zu sorgfältiger Un- tersuchung, d. h. zur Kritik.
Ist denn Zweifeln so leicht? das Wort auszusprechen, aller- dings gar sehr. Aber manchem, der sich Kritiker dünkt, sind tausende der berechtigtesten Zweifel rein unmöglich, weil ihm alle Vorbedingungen dazu fehlen; und tausende der berechtigte- sten Sätze will er nicht anerkennen, weil er nicht fähig ist, sie zu begreifen. Man muß viel wissen, sehr geübt sein im Den- ken, viel Scharfsinn haben, um den Punkt des Zweifels zu ent- decken; und der einzelne, noch so hoch Begabte, steht immer noch unter dem Einflusse seiner Zeit und kann gewisse Dinge nicht bezweifeln. Doch genug hiervon! wir haben im Buche selbst Gelegenheit gehabt, von Dialektik zu reden; und der Zwei- fel, der nicht zur Dialektik, zur Kritik wird, verdient nicht die mindeste Beachtung.
Lernt die Natur des menschlichen Denkens kennen, die Na- tur des Objects und der allgemeinen Kategorien; studirt also Psychologie, Metaphysik, Logik. Studirt auch Geschichte, die vorzüglich geeignet ist, uns von Irrthümern zu reinigen und vor der Eitelkeit zu bewahren, daß jeder närrische Gedanke, der uns durch den Kopf fliegt, eine nagelneue Wahrheit sei, in- dem nämlich die Geschichte lehrt, daß die Erzeugnisse unsers sogenannten Selbstdenkens meist schon vor Jahrhunderten und Jahrtausenden in viel tieferer Weise erdacht, umfassender durch- geführt und schon längst gründlich widerlegt sind.
Mit vorliegendem Werke wollte ich ein doppeltes Verspre- chen einlösen. Erstlich habe ich Herrn Pott öffentlich (siehe meine Abhandlung "Die Entwickelung der Schrift" S. 19) ver- sprochen, das Verhältniß der Grammatik zur Logik ausführlich zu erörtern; und zweitens war meine Schrift "Der Ursprung der Sprache" ein stillschweigendes Versprechen, die daselbst gestellte Aufgabe zu übernehmen. In gegenwärtigem Werke sind beide Punkte dem einen Zwecke untergeordnet, das Princip der
**
ist aber keineswegs so. Es muß gezweifelt werden, ob der Zweifel gründlich, werth- und gehaltvoll ist; ob er zu einer wirkli- chen That des Denkens geworden, oder bloßes Wort, bloßer abstracter Vorsatz geblieben ist: das treibt zu sorgfältiger Un- tersuchung, d. h. zur Kritik.
Ist denn Zweifeln so leicht? das Wort auszusprechen, aller- dings gar sehr. Aber manchem, der sich Kritiker dünkt, sind tausende der berechtigtesten Zweifel rein unmöglich, weil ihm alle Vorbedingungen dazu fehlen; und tausende der berechtigte- sten Sätze will er nicht anerkennen, weil er nicht fähig ist, sie zu begreifen. Man muß viel wissen, sehr geübt sein im Den- ken, viel Scharfsinn haben, um den Punkt des Zweifels zu ent- decken; und der einzelne, noch so hoch Begabte, steht immer noch unter dem Einflusse seiner Zeit und kann gewisse Dinge nicht bezweifeln. Doch genug hiervon! wir haben im Buche selbst Gelegenheit gehabt, von Dialektik zu reden; und der Zwei- fel, der nicht zur Dialektik, zur Kritik wird, verdient nicht die mindeste Beachtung.
Lernt die Natur des menschlichen Denkens kennen, die Na- tur des Objects und der allgemeinen Kategorien; studirt also Psychologie, Metaphysik, Logik. Studirt auch Geschichte, die vorzüglich geeignet ist, uns von Irrthümern zu reinigen und vor der Eitelkeit zu bewahren, daß jeder närrische Gedanke, der uns durch den Kopf fliegt, eine nagelneue Wahrheit sei, in- dem nämlich die Geschichte lehrt, daß die Erzeugnisse unsers sogenannten Selbstdenkens meist schon vor Jahrhunderten und Jahrtausenden in viel tieferer Weise erdacht, umfassender durch- geführt und schon längst gründlich widerlegt sind.
Mit vorliegendem Werke wollte ich ein doppeltes Verspre- chen einlösen. Erstlich habe ich Herrn Pott öffentlich (siehe meine Abhandlung „Die Entwickelung der Schrift“ S. 19) ver- sprochen, das Verhältniß der Grammatik zur Logik ausführlich zu erörtern; und zweitens war meine Schrift „Der Ursprung der Sprache“ ein stillschweigendes Versprechen, die daselbst gestellte Aufgabe zu übernehmen. In gegenwärtigem Werke sind beide Punkte dem einen Zwecke untergeordnet, das Princip der
**
<TEI><text><front><divn="1"><p><pbfacs="#f0025"n="XIX"/>
ist aber keineswegs so. Es muß gezweifelt werden, ob der<lb/>
Zweifel gründlich, werth- und gehaltvoll ist; ob er zu einer wirkli-<lb/>
chen That des Denkens geworden, oder bloßes Wort, bloßer<lb/>
abstracter Vorsatz geblieben ist: das treibt zu sorgfältiger Un-<lb/>
tersuchung, d. h. zur Kritik.</p><lb/><p>Ist denn Zweifeln so leicht? das Wort auszusprechen, aller-<lb/>
dings gar sehr. Aber manchem, der sich Kritiker dünkt, sind<lb/>
tausende der berechtigtesten Zweifel rein unmöglich, weil ihm<lb/>
alle Vorbedingungen dazu fehlen; und tausende der berechtigte-<lb/>
sten Sätze will er nicht anerkennen, weil er nicht fähig ist, sie<lb/>
zu begreifen. Man muß viel wissen, sehr geübt sein im Den-<lb/>
ken, viel Scharfsinn haben, um den Punkt des Zweifels zu ent-<lb/>
decken; und der einzelne, noch so hoch Begabte, steht immer<lb/>
noch unter dem Einflusse seiner Zeit und kann gewisse Dinge<lb/>
nicht bezweifeln. Doch genug hiervon! wir haben im Buche<lb/>
selbst Gelegenheit gehabt, von Dialektik zu reden; und der Zwei-<lb/>
fel, der nicht zur Dialektik, zur Kritik wird, verdient nicht die<lb/>
mindeste Beachtung.</p><lb/><p>Lernt die Natur des menschlichen Denkens kennen, die Na-<lb/>
tur des Objects und der allgemeinen Kategorien; studirt also<lb/>
Psychologie, Metaphysik, Logik. Studirt auch Geschichte, die<lb/>
vorzüglich geeignet ist, uns von Irrthümern zu reinigen und vor<lb/>
der Eitelkeit zu bewahren, daß jeder närrische Gedanke, der<lb/>
uns durch den Kopf fliegt, eine nagelneue Wahrheit sei, in-<lb/>
dem nämlich die Geschichte lehrt, daß die Erzeugnisse unsers<lb/>
sogenannten Selbstdenkens meist schon vor Jahrhunderten und<lb/>
Jahrtausenden in viel tieferer Weise erdacht, umfassender durch-<lb/>
geführt und schon längst gründlich widerlegt sind.</p><lb/><p>Mit vorliegendem Werke wollte ich ein doppeltes Verspre-<lb/>
chen einlösen. Erstlich habe ich Herrn Pott öffentlich (siehe<lb/>
meine Abhandlung „Die Entwickelung der Schrift“ S. 19) ver-<lb/>
sprochen, das Verhältniß der Grammatik zur Logik ausführlich<lb/>
zu erörtern; und zweitens war meine Schrift „Der Ursprung<lb/>
der Sprache“ ein stillschweigendes Versprechen, die daselbst<lb/>
gestellte Aufgabe zu übernehmen. In gegenwärtigem Werke sind<lb/>
beide Punkte dem einen Zwecke untergeordnet, das Princip der<lb/><fwplace="bottom"type="sig">**</fw><lb/></p></div></front></text></TEI>
[XIX/0025]
ist aber keineswegs so. Es muß gezweifelt werden, ob der
Zweifel gründlich, werth- und gehaltvoll ist; ob er zu einer wirkli-
chen That des Denkens geworden, oder bloßes Wort, bloßer
abstracter Vorsatz geblieben ist: das treibt zu sorgfältiger Un-
tersuchung, d. h. zur Kritik.
Ist denn Zweifeln so leicht? das Wort auszusprechen, aller-
dings gar sehr. Aber manchem, der sich Kritiker dünkt, sind
tausende der berechtigtesten Zweifel rein unmöglich, weil ihm
alle Vorbedingungen dazu fehlen; und tausende der berechtigte-
sten Sätze will er nicht anerkennen, weil er nicht fähig ist, sie
zu begreifen. Man muß viel wissen, sehr geübt sein im Den-
ken, viel Scharfsinn haben, um den Punkt des Zweifels zu ent-
decken; und der einzelne, noch so hoch Begabte, steht immer
noch unter dem Einflusse seiner Zeit und kann gewisse Dinge
nicht bezweifeln. Doch genug hiervon! wir haben im Buche
selbst Gelegenheit gehabt, von Dialektik zu reden; und der Zwei-
fel, der nicht zur Dialektik, zur Kritik wird, verdient nicht die
mindeste Beachtung.
Lernt die Natur des menschlichen Denkens kennen, die Na-
tur des Objects und der allgemeinen Kategorien; studirt also
Psychologie, Metaphysik, Logik. Studirt auch Geschichte, die
vorzüglich geeignet ist, uns von Irrthümern zu reinigen und vor
der Eitelkeit zu bewahren, daß jeder närrische Gedanke, der
uns durch den Kopf fliegt, eine nagelneue Wahrheit sei, in-
dem nämlich die Geschichte lehrt, daß die Erzeugnisse unsers
sogenannten Selbstdenkens meist schon vor Jahrhunderten und
Jahrtausenden in viel tieferer Weise erdacht, umfassender durch-
geführt und schon längst gründlich widerlegt sind.
Mit vorliegendem Werke wollte ich ein doppeltes Verspre-
chen einlösen. Erstlich habe ich Herrn Pott öffentlich (siehe
meine Abhandlung „Die Entwickelung der Schrift“ S. 19) ver-
sprochen, das Verhältniß der Grammatik zur Logik ausführlich
zu erörtern; und zweitens war meine Schrift „Der Ursprung
der Sprache“ ein stillschweigendes Versprechen, die daselbst
gestellte Aufgabe zu übernehmen. In gegenwärtigem Werke sind
beide Punkte dem einen Zwecke untergeordnet, das Princip der
**
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. XIX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/25>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.