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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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gebende Luft warm oder kalt ist; aber ein wundes Glied, das,
der Luft ausgesetzt, schmerzt, kennt nur diesen Schmerz und
weiß nichts von der Luft. Der augenscheinliche Unterschied
besteht hier darin, daß beim Gefühl das Leiden des Körpers
oder die Einwirkung von außen auf denselben heftiger, gewalt-
samer, eindringender ist. Der Nerv wird verletzt und nicht so-
wohl erregt, als gestört, oder vielmehr zerstört. Was ihm hier
widerfährt, ist ihm fremd, seiner Bestimmung nicht angemessen.
Gegen so rohes Anpochen von außen zieht sich die Seele in
sich zurück, schließt sich in sich ein; sie ist -- auch in der
Lust -- überwältigt, unterjocht vom Aeußern, und weiß nicht,
wie ihr geschieht. Das Aeußere lastet auf der Seele, unter-
drückt ihre Thätigkeit, gebietet ihr Schweigen; und die Seele
erwidert hierauf nur mit einem Gefühl, wodurch sie bloß ihr
Dasein geltend macht. Bei der Sinnesempfindung im Gegentheil
ist es nur eine Berührung, die der Leib von außen erfährt. Es
ist ein einladendes Anklopfen, welches die Seele herauslockt.
Die Organe werden aus der Ruhe, dem Müßiggange geweckt;
indem ihnen ein angemessener Stoff in angemessener Stärke
naht, werden sie erregt, in die Bewegung versetzt, zu der sie
geeignet sind. Der von außen kommende Andrang versetzt sie
in ihr wahres Leben, überwältigt sie nicht. Diese Schwäche
des äußern Andranges ist nöthig. Daher kommt es, daß das
Auge den Dienst versagt, selbst wenn ihm der angemessene
Stoff, Licht, geboten wird, nur in zu großer Stärke. Und da-
her hat ferner nicht bloß das Embryo, sondern auch das neu-
geborene Kind bloß Gefühl und noch keine Empfindung: weil
für dessen Organe selbst die normale Stärke der äußern Ein-
drücke noch zu mächtig ist. Seine Organe müssen sich erst
kräftigen und Licht und Luft ertragen, und so empfinden
lernen.

Mit diesem ersten Punkte ist nun auch schon ein zweiter
gegeben. Ist in der Empfindung, wie wir so eben sagten, der
Andrang von außen schwächer, als im Gefühl, so ist umgekehrt
auch die Gegenwirkung der Seele in jener größer, als in die-
sem. In der Empfindung findet zwischen dem Organ, oder der
Seele, und dem erregenden Aeußern ein freundschaftlicher Ver-
kehr zweier gleich starker Mächte Statt, bei welchem die Seele
nicht bloß leidet, sondern auch thätig ist. Sie bewahrt ihre
Selbständigkeit und empfängt von außen etwas, was sie, es

gebende Luft warm oder kalt ist; aber ein wundes Glied, das,
der Luft ausgesetzt, schmerzt, kennt nur diesen Schmerz und
weiß nichts von der Luft. Der augenscheinliche Unterschied
besteht hier darin, daß beim Gefühl das Leiden des Körpers
oder die Einwirkung von außen auf denselben heftiger, gewalt-
samer, eindringender ist. Der Nerv wird verletzt und nicht so-
wohl erregt, als gestört, oder vielmehr zerstört. Was ihm hier
widerfährt, ist ihm fremd, seiner Bestimmung nicht angemessen.
Gegen so rohes Anpochen von außen zieht sich die Seele in
sich zurück, schließt sich in sich ein; sie ist — auch in der
Lust — überwältigt, unterjocht vom Aeußern, und weiß nicht,
wie ihr geschieht. Das Aeußere lastet auf der Seele, unter-
drückt ihre Thätigkeit, gebietet ihr Schweigen; und die Seele
erwidert hierauf nur mit einem Gefühl, wodurch sie bloß ihr
Dasein geltend macht. Bei der Sinnesempfindung im Gegentheil
ist es nur eine Berührung, die der Leib von außen erfährt. Es
ist ein einladendes Anklopfen, welches die Seele herauslockt.
Die Organe werden aus der Ruhe, dem Müßiggange geweckt;
indem ihnen ein angemessener Stoff in angemessener Stärke
naht, werden sie erregt, in die Bewegung versetzt, zu der sie
geeignet sind. Der von außen kommende Andrang versetzt sie
in ihr wahres Leben, überwältigt sie nicht. Diese Schwäche
des äußern Andranges ist nöthig. Daher kommt es, daß das
Auge den Dienst versagt, selbst wenn ihm der angemessene
Stoff, Licht, geboten wird, nur in zu großer Stärke. Und da-
her hat ferner nicht bloß das Embryo, sondern auch das neu-
geborene Kind bloß Gefühl und noch keine Empfindung: weil
für dessen Organe selbst die normale Stärke der äußern Ein-
drücke noch zu mächtig ist. Seine Organe müssen sich erst
kräftigen und Licht und Luft ertragen, und so empfinden
lernen.

Mit diesem ersten Punkte ist nun auch schon ein zweiter
gegeben. Ist in der Empfindung, wie wir so eben sagten, der
Andrang von außen schwächer, als im Gefühl, so ist umgekehrt
auch die Gegenwirkung der Seele in jener größer, als in die-
sem. In der Empfindung findet zwischen dem Organ, oder der
Seele, und dem erregenden Aeußern ein freundschaftlicher Ver-
kehr zweier gleich starker Mächte Statt, bei welchem die Seele
nicht bloß leidet, sondern auch thätig ist. Sie bewahrt ihre
Selbständigkeit und empfängt von außen etwas, was sie, es

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[238/0276] gebende Luft warm oder kalt ist; aber ein wundes Glied, das, der Luft ausgesetzt, schmerzt, kennt nur diesen Schmerz und weiß nichts von der Luft. Der augenscheinliche Unterschied besteht hier darin, daß beim Gefühl das Leiden des Körpers oder die Einwirkung von außen auf denselben heftiger, gewalt- samer, eindringender ist. Der Nerv wird verletzt und nicht so- wohl erregt, als gestört, oder vielmehr zerstört. Was ihm hier widerfährt, ist ihm fremd, seiner Bestimmung nicht angemessen. Gegen so rohes Anpochen von außen zieht sich die Seele in sich zurück, schließt sich in sich ein; sie ist — auch in der Lust — überwältigt, unterjocht vom Aeußern, und weiß nicht, wie ihr geschieht. Das Aeußere lastet auf der Seele, unter- drückt ihre Thätigkeit, gebietet ihr Schweigen; und die Seele erwidert hierauf nur mit einem Gefühl, wodurch sie bloß ihr Dasein geltend macht. Bei der Sinnesempfindung im Gegentheil ist es nur eine Berührung, die der Leib von außen erfährt. Es ist ein einladendes Anklopfen, welches die Seele herauslockt. Die Organe werden aus der Ruhe, dem Müßiggange geweckt; indem ihnen ein angemessener Stoff in angemessener Stärke naht, werden sie erregt, in die Bewegung versetzt, zu der sie geeignet sind. Der von außen kommende Andrang versetzt sie in ihr wahres Leben, überwältigt sie nicht. Diese Schwäche des äußern Andranges ist nöthig. Daher kommt es, daß das Auge den Dienst versagt, selbst wenn ihm der angemessene Stoff, Licht, geboten wird, nur in zu großer Stärke. Und da- her hat ferner nicht bloß das Embryo, sondern auch das neu- geborene Kind bloß Gefühl und noch keine Empfindung: weil für dessen Organe selbst die normale Stärke der äußern Ein- drücke noch zu mächtig ist. Seine Organe müssen sich erst kräftigen und Licht und Luft ertragen, und so empfinden lernen. Mit diesem ersten Punkte ist nun auch schon ein zweiter gegeben. Ist in der Empfindung, wie wir so eben sagten, der Andrang von außen schwächer, als im Gefühl, so ist umgekehrt auch die Gegenwirkung der Seele in jener größer, als in die- sem. In der Empfindung findet zwischen dem Organ, oder der Seele, und dem erregenden Aeußern ein freundschaftlicher Ver- kehr zweier gleich starker Mächte Statt, bei welchem die Seele nicht bloß leidet, sondern auch thätig ist. Sie bewahrt ihre Selbständigkeit und empfängt von außen etwas, was sie, es

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/276>, abgerufen am 21.11.2024.