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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Körper, macht gewissermaßen einen Bestandtheil desselben aus
und ist nicht ablösbar von ihm. Wie sollte also im Gefühl die
Seele veranlaßt werden, über den Körper in irgend einer Weise
hinauszugehen? Das Gefühl beschäftigt die Seele völlig, nimmt
sie ganz in Anspruch, hält sie gefangen; wie könnte sie vom
Körper absehen? -- Ganz anders in der Empfindung. Diese
haftet nur am Körper, wie sie nur durch eine Berührung des
Organs mit dem Elemente erzeugt ist. Sie geht schnell vor-
über, sobald die äußere Erregung vorüber ist. Sie geht vor-
über, sobald sich der Körper von dem erregenden Elemente ab-
wendet; sie wird stärker und schwächer, je nachdem sich der
Leib dem Elemente mehr nähert, oder von ihm entfernt. Dabei
ist Leib und Seele von der Empfindung weniger ergriffen, und
die Seele bleibt ihrer mächtig. Man sieht also z. B. in diesem
Augenblicke die blaue Farbe; man wendet den Kopf und sieht
die grüne Farbe. Jetzt verschiebt sich aber das Ding und man
sieht wieder Blau. Man hört einen Ton, man hört ihn stärker
oder schwächer, je nachdem man das Ohr nähert oder entfernt.
Das Tönen hört auf, und man vernimmt nichts mehr, obgleich
der Körper sich nicht verändert hat; das Tönen dauert fort,
aber man entfernt sich und hört immer schwächer und schwä-
cher und endlich gar nicht mehr. Oder man hört zunächst
nichts, bleibt ruhig und hört nun plötzlich; man schreitet vor
und hört immer stärker, bis man der tönenden Ursache ganz
nahe ist; oder man ruht und hört dennoch stärker, weil die tö-
nende Ursache sich nähert. Solche Erscheinungen, die sich in
Fülle, jeden Augenblick darbieten, sind wohl im Stande, Auf-
merksamkeit zu erwecken. Die Seele merkt, daß die Empfin-
dung nicht im Zusammenhange stehen kann mit den Bewegun-
gen des eigenen Leibes, welche sie selbst leitet; daß sie ihr
zukommt ohne Bewegung des Leibes, und trotz derselben; daß
sie also nicht im Leibe ist, sondern ihr durch Bewegung von
außen zukommt; und so verlegt sie die Empfindung außer sich
und scheidet sich von ihr als dem Dinge, welches ihr etwas an-
thut, oder scheidet sich, zunächst wenigstens, von der Empfin-
dung als etwas Aeußerm, welches ihr angethan oder gegeben
wird, das sie nehmen kann. Man greift einen Gegenstand und
fühlt seine Glätte oder Rauhheit, man empfindet einen harten oder
weichen Stoff; man läßt ihn fallen, und die Empfindung ist
vorüber. Die Tastempfindung, schließt jetzt die Seele, freilich

Körper, macht gewissermaßen einen Bestandtheil desselben aus
und ist nicht ablösbar von ihm. Wie sollte also im Gefühl die
Seele veranlaßt werden, über den Körper in irgend einer Weise
hinauszugehen? Das Gefühl beschäftigt die Seele völlig, nimmt
sie ganz in Anspruch, hält sie gefangen; wie könnte sie vom
Körper absehen? — Ganz anders in der Empfindung. Diese
haftet nur am Körper, wie sie nur durch eine Berührung des
Organs mit dem Elemente erzeugt ist. Sie geht schnell vor-
über, sobald die äußere Erregung vorüber ist. Sie geht vor-
über, sobald sich der Körper von dem erregenden Elemente ab-
wendet; sie wird stärker und schwächer, je nachdem sich der
Leib dem Elemente mehr nähert, oder von ihm entfernt. Dabei
ist Leib und Seele von der Empfindung weniger ergriffen, und
die Seele bleibt ihrer mächtig. Man sieht also z. B. in diesem
Augenblicke die blaue Farbe; man wendet den Kopf und sieht
die grüne Farbe. Jetzt verschiebt sich aber das Ding und man
sieht wieder Blau. Man hört einen Ton, man hört ihn stärker
oder schwächer, je nachdem man das Ohr nähert oder entfernt.
Das Tönen hört auf, und man vernimmt nichts mehr, obgleich
der Körper sich nicht verändert hat; das Tönen dauert fort,
aber man entfernt sich und hört immer schwächer und schwä-
cher und endlich gar nicht mehr. Oder man hört zunächst
nichts, bleibt ruhig und hört nun plötzlich; man schreitet vor
und hört immer stärker, bis man der tönenden Ursache ganz
nahe ist; oder man ruht und hört dennoch stärker, weil die tö-
nende Ursache sich nähert. Solche Erscheinungen, die sich in
Fülle, jeden Augenblick darbieten, sind wohl im Stande, Auf-
merksamkeit zu erwecken. Die Seele merkt, daß die Empfin-
dung nicht im Zusammenhange stehen kann mit den Bewegun-
gen des eigenen Leibes, welche sie selbst leitet; daß sie ihr
zukommt ohne Bewegung des Leibes, und trotz derselben; daß
sie also nicht im Leibe ist, sondern ihr durch Bewegung von
außen zukommt; und so verlegt sie die Empfindung außer sich
und scheidet sich von ihr als dem Dinge, welches ihr etwas an-
thut, oder scheidet sich, zunächst wenigstens, von der Empfin-
dung als etwas Aeußerm, welches ihr angethan oder gegeben
wird, das sie nehmen kann. Man greift einen Gegenstand und
fühlt seine Glätte oder Rauhheit, man empfindet einen harten oder
weichen Stoff; man läßt ihn fallen, und die Empfindung ist
vorüber. Die Tastempfindung, schließt jetzt die Seele, freilich

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[244/0282] Körper, macht gewissermaßen einen Bestandtheil desselben aus und ist nicht ablösbar von ihm. Wie sollte also im Gefühl die Seele veranlaßt werden, über den Körper in irgend einer Weise hinauszugehen? Das Gefühl beschäftigt die Seele völlig, nimmt sie ganz in Anspruch, hält sie gefangen; wie könnte sie vom Körper absehen? — Ganz anders in der Empfindung. Diese haftet nur am Körper, wie sie nur durch eine Berührung des Organs mit dem Elemente erzeugt ist. Sie geht schnell vor- über, sobald die äußere Erregung vorüber ist. Sie geht vor- über, sobald sich der Körper von dem erregenden Elemente ab- wendet; sie wird stärker und schwächer, je nachdem sich der Leib dem Elemente mehr nähert, oder von ihm entfernt. Dabei ist Leib und Seele von der Empfindung weniger ergriffen, und die Seele bleibt ihrer mächtig. Man sieht also z. B. in diesem Augenblicke die blaue Farbe; man wendet den Kopf und sieht die grüne Farbe. Jetzt verschiebt sich aber das Ding und man sieht wieder Blau. Man hört einen Ton, man hört ihn stärker oder schwächer, je nachdem man das Ohr nähert oder entfernt. Das Tönen hört auf, und man vernimmt nichts mehr, obgleich der Körper sich nicht verändert hat; das Tönen dauert fort, aber man entfernt sich und hört immer schwächer und schwä- cher und endlich gar nicht mehr. Oder man hört zunächst nichts, bleibt ruhig und hört nun plötzlich; man schreitet vor und hört immer stärker, bis man der tönenden Ursache ganz nahe ist; oder man ruht und hört dennoch stärker, weil die tö- nende Ursache sich nähert. Solche Erscheinungen, die sich in Fülle, jeden Augenblick darbieten, sind wohl im Stande, Auf- merksamkeit zu erwecken. Die Seele merkt, daß die Empfin- dung nicht im Zusammenhange stehen kann mit den Bewegun- gen des eigenen Leibes, welche sie selbst leitet; daß sie ihr zukommt ohne Bewegung des Leibes, und trotz derselben; daß sie also nicht im Leibe ist, sondern ihr durch Bewegung von außen zukommt; und so verlegt sie die Empfindung außer sich und scheidet sich von ihr als dem Dinge, welches ihr etwas an- thut, oder scheidet sich, zunächst wenigstens, von der Empfin- dung als etwas Aeußerm, welches ihr angethan oder gegeben wird, das sie nehmen kann. Man greift einen Gegenstand und fühlt seine Glätte oder Rauhheit, man empfindet einen harten oder weichen Stoff; man läßt ihn fallen, und die Empfindung ist vorüber. Die Tastempfindung, schließt jetzt die Seele, freilich

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/282>, abgerufen am 21.11.2024.