Betrachten wir also die Wirkung der Sinnesorgane insge- sammt, so werden wir sagen müssen, daß die reine Naturkraft der thierischen Sinne stärker ist, als die der menschlichen; daß dafür der Mensch eine größere Mannigfaltigkeit von Eindrücken hat, welche, weniger oder ganz und gar nicht der Nothwendig- keit des leiblichen Lebens dienend, nur als ein wuchernder Ueber- schuß von den Sinnen hervorgebracht werden und zum Luxus, zur Annehmlichkeit des Lebens sich darbieten. Wir sehen hier die Entstehung der Künste im Keime angelegt. Nämlich jeder Ueberschuß über die Nothwendigkeit der Natur treibt zur Kunst, zum Selbstbewußtsein. Das Thier riecht und schmeckt, damit es die ihm wohlthuende Nahrung erkenne, damit es wisse, wenn es genug gegessen habe. Der Mensch aber unterscheidet Wohl- geruch und Wohlgeschmack. Er fühlt einen Gaumen- und Na- senkitzel. Indem er das Bedürfniß des Essens, des Leibes be- friedigt, gewährt er noch nebenbei der Seele einen Genuß, weckt also die Seele, und schon hier beginnt das Ich. Helle und Dun- kelheit, das Farbenspiel der Natur, das Tönen derselben ergreift den Menschen, erregend und niederdrückend, erheiternd und be- ängstigend, ohne daß sich sagen ließe, wie und warum? Diese ästhetischen Eindrücke der einfachen Natur hat der Wilde, der Urmensch in viel höherm Grade, als wir, und sie sind Quelle der Kunst und Religion, Ueberschuß über die Sinne in den Geist; das Thier aber hat davon sehr wenig, wenn überhaupt etwas.
Wir haben hier besonders ein Gefühl hervorzuheben: den Schauer, den der Urmensch etwa empfand, als er zum ersten Male den dunkeln rauschenden Hain betrat. Ich glaube ihn psychologisch erklären zu können. Wegen der Association der Anschauungen hat der Mensch, und auch das Thier, Erwartun- gen einer folgenden Anschauung, sobald ihm die erste gegeben ist. Nun aber gewinnt der Mensch viel mehr Elementarkennt- nisse. Der Vorgang der Association und Erwartung muß sich also ungleich häufiger beim Menschen, als beim Thiere ereignen. Die Erwartung wird eine viel festere Gewohnheit, wird ihm zum Bedürfniß. Wenn sich eine Reihe von Anschauungen vor ihm entwickelt, so kann er sich nicht enthalten, bei jeder einzelnen eine andere, die in seiner Seele mit jener verknüpft ist, zu er- warten. Oder es sind mehrere mit jeder verknüpft; so erwar- tet er, welche derselben jetzt ihre volle Klarheit erlangen solle,
Betrachten wir also die Wirkung der Sinnesorgane insge- sammt, so werden wir sagen müssen, daß die reine Naturkraft der thierischen Sinne stärker ist, als die der menschlichen; daß dafür der Mensch eine größere Mannigfaltigkeit von Eindrücken hat, welche, weniger oder ganz und gar nicht der Nothwendig- keit des leiblichen Lebens dienend, nur als ein wuchernder Ueber- schuß von den Sinnen hervorgebracht werden und zum Luxus, zur Annehmlichkeit des Lebens sich darbieten. Wir sehen hier die Entstehung der Künste im Keime angelegt. Nämlich jeder Ueberschuß über die Nothwendigkeit der Natur treibt zur Kunst, zum Selbstbewußtsein. Das Thier riecht und schmeckt, damit es die ihm wohlthuende Nahrung erkenne, damit es wisse, wenn es genug gegessen habe. Der Mensch aber unterscheidet Wohl- geruch und Wohlgeschmack. Er fühlt einen Gaumen- und Na- senkitzel. Indem er das Bedürfniß des Essens, des Leibes be- friedigt, gewährt er noch nebenbei der Seele einen Genuß, weckt also die Seele, und schon hier beginnt das Ich. Helle und Dun- kelheit, das Farbenspiel der Natur, das Tönen derselben ergreift den Menschen, erregend und niederdrückend, erheiternd und be- ängstigend, ohne daß sich sagen ließe, wie und warum? Diese ästhetischen Eindrücke der einfachen Natur hat der Wilde, der Urmensch in viel höherm Grade, als wir, und sie sind Quelle der Kunst und Religion, Ueberschuß über die Sinne in den Geist; das Thier aber hat davon sehr wenig, wenn überhaupt etwas.
Wir haben hier besonders ein Gefühl hervorzuheben: den Schauer, den der Urmensch etwa empfand, als er zum ersten Male den dunkeln rauschenden Hain betrat. Ich glaube ihn psychologisch erklären zu können. Wegen der Association der Anschauungen hat der Mensch, und auch das Thier, Erwartun- gen einer folgenden Anschauung, sobald ihm die erste gegeben ist. Nun aber gewinnt der Mensch viel mehr Elementarkennt- nisse. Der Vorgang der Association und Erwartung muß sich also ungleich häufiger beim Menschen, als beim Thiere ereignen. Die Erwartung wird eine viel festere Gewohnheit, wird ihm zum Bedürfniß. Wenn sich eine Reihe von Anschauungen vor ihm entwickelt, so kann er sich nicht enthalten, bei jeder einzelnen eine andere, die in seiner Seele mit jener verknüpft ist, zu er- warten. Oder es sind mehrere mit jeder verknüpft; so erwar- tet er, welche derselben jetzt ihre volle Klarheit erlangen solle,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><pbfacs="#f0322"n="284"/><p>Betrachten wir also die Wirkung der Sinnesorgane insge-<lb/>
sammt, so werden wir sagen müssen, daß die reine Naturkraft<lb/>
der thierischen Sinne stärker ist, als die der menschlichen; daß<lb/>
dafür der Mensch eine größere Mannigfaltigkeit von Eindrücken<lb/>
hat, welche, weniger oder ganz und gar nicht der Nothwendig-<lb/>
keit des leiblichen Lebens dienend, nur als ein wuchernder Ueber-<lb/>
schuß von den Sinnen hervorgebracht werden und zum Luxus,<lb/>
zur Annehmlichkeit des Lebens sich darbieten. Wir sehen hier<lb/>
die Entstehung der Künste im Keime angelegt. Nämlich jeder<lb/>
Ueberschuß über die Nothwendigkeit der Natur treibt zur Kunst,<lb/>
zum Selbstbewußtsein. Das Thier riecht und schmeckt, damit<lb/>
es die ihm wohlthuende Nahrung erkenne, damit es wisse, wenn<lb/>
es genug gegessen habe. Der Mensch aber unterscheidet Wohl-<lb/>
geruch und Wohlgeschmack. Er fühlt einen Gaumen- und Na-<lb/>
senkitzel. Indem er das Bedürfniß des Essens, des Leibes be-<lb/>
friedigt, gewährt er noch nebenbei der Seele einen Genuß, weckt<lb/>
also die Seele, und schon hier beginnt das Ich. Helle und Dun-<lb/>
kelheit, das Farbenspiel der Natur, das Tönen derselben ergreift<lb/>
den Menschen, erregend und niederdrückend, erheiternd und be-<lb/>
ängstigend, ohne daß sich sagen ließe, wie und warum? Diese<lb/>
ästhetischen Eindrücke der einfachen Natur hat der Wilde, der<lb/>
Urmensch in viel höherm Grade, als wir, und sie sind Quelle<lb/>
der Kunst und Religion, Ueberschuß über die Sinne in den<lb/>
Geist; das Thier aber hat davon sehr wenig, wenn überhaupt<lb/>
etwas.</p><lb/><p>Wir haben hier besonders ein Gefühl hervorzuheben: den<lb/>
Schauer, den der Urmensch etwa empfand, als er zum ersten<lb/>
Male den dunkeln rauschenden Hain betrat. Ich glaube ihn<lb/>
psychologisch erklären zu können. Wegen der Association der<lb/>
Anschauungen hat der Mensch, und auch das Thier, Erwartun-<lb/>
gen einer folgenden Anschauung, sobald ihm die erste gegeben<lb/>
ist. Nun aber gewinnt der Mensch viel mehr Elementarkennt-<lb/>
nisse. Der Vorgang der Association und Erwartung muß sich<lb/>
also ungleich häufiger beim Menschen, als beim Thiere ereignen.<lb/>
Die Erwartung wird eine viel festere Gewohnheit, wird ihm zum<lb/>
Bedürfniß. Wenn sich eine Reihe von Anschauungen vor ihm<lb/>
entwickelt, so kann er sich nicht enthalten, bei jeder einzelnen<lb/>
eine andere, die in seiner Seele mit jener verknüpft ist, zu er-<lb/>
warten. Oder es sind mehrere mit jeder verknüpft; so erwar-<lb/>
tet er, welche derselben jetzt ihre volle Klarheit erlangen solle,<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[284/0322]
Betrachten wir also die Wirkung der Sinnesorgane insge-
sammt, so werden wir sagen müssen, daß die reine Naturkraft
der thierischen Sinne stärker ist, als die der menschlichen; daß
dafür der Mensch eine größere Mannigfaltigkeit von Eindrücken
hat, welche, weniger oder ganz und gar nicht der Nothwendig-
keit des leiblichen Lebens dienend, nur als ein wuchernder Ueber-
schuß von den Sinnen hervorgebracht werden und zum Luxus,
zur Annehmlichkeit des Lebens sich darbieten. Wir sehen hier
die Entstehung der Künste im Keime angelegt. Nämlich jeder
Ueberschuß über die Nothwendigkeit der Natur treibt zur Kunst,
zum Selbstbewußtsein. Das Thier riecht und schmeckt, damit
es die ihm wohlthuende Nahrung erkenne, damit es wisse, wenn
es genug gegessen habe. Der Mensch aber unterscheidet Wohl-
geruch und Wohlgeschmack. Er fühlt einen Gaumen- und Na-
senkitzel. Indem er das Bedürfniß des Essens, des Leibes be-
friedigt, gewährt er noch nebenbei der Seele einen Genuß, weckt
also die Seele, und schon hier beginnt das Ich. Helle und Dun-
kelheit, das Farbenspiel der Natur, das Tönen derselben ergreift
den Menschen, erregend und niederdrückend, erheiternd und be-
ängstigend, ohne daß sich sagen ließe, wie und warum? Diese
ästhetischen Eindrücke der einfachen Natur hat der Wilde, der
Urmensch in viel höherm Grade, als wir, und sie sind Quelle
der Kunst und Religion, Ueberschuß über die Sinne in den
Geist; das Thier aber hat davon sehr wenig, wenn überhaupt
etwas.
Wir haben hier besonders ein Gefühl hervorzuheben: den
Schauer, den der Urmensch etwa empfand, als er zum ersten
Male den dunkeln rauschenden Hain betrat. Ich glaube ihn
psychologisch erklären zu können. Wegen der Association der
Anschauungen hat der Mensch, und auch das Thier, Erwartun-
gen einer folgenden Anschauung, sobald ihm die erste gegeben
ist. Nun aber gewinnt der Mensch viel mehr Elementarkennt-
nisse. Der Vorgang der Association und Erwartung muß sich
also ungleich häufiger beim Menschen, als beim Thiere ereignen.
Die Erwartung wird eine viel festere Gewohnheit, wird ihm zum
Bedürfniß. Wenn sich eine Reihe von Anschauungen vor ihm
entwickelt, so kann er sich nicht enthalten, bei jeder einzelnen
eine andere, die in seiner Seele mit jener verknüpft ist, zu er-
warten. Oder es sind mehrere mit jeder verknüpft; so erwar-
tet er, welche derselben jetzt ihre volle Klarheit erlangen solle,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/322>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.