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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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dadurch daß ihm die wirkliche sinnliche Anschauung von neuem
geboten wird. So ist es, nur in geringerer Menge, beim Thiere
auch. Wird nun aber eine neue Anschauung geboten, welche
noch mit keiner andern verknüpft sein kann, so starrt das Thier
gleichgültig; der Mensch aber, der sich in eine Reihe von An-
schauungen geführt sieht, bei deren keiner er Gelegenheit hat
etwas Bekanntes zu erwarten; dem hier bevorsteht, daß ihm
einzeln nach und nach mehrere Anschauungen ohne vorgängige
Erwartung geboten werden: er fühlt in dieser ungewohnten Weise
des Anschauens jene Beklemmung des Schauers, in welchem er
bei jedem Schritte erst der Erholung, der Wiederherstellung
des Gleichgewichts im Bewußtsein bedarf. Es ist kein Ablauf
einer Reihe von Anschauungen, wo Welle auf Welle folgt; son-
dern es sind abgebrochene Schritte, deren jeder für sich, un-
associirt dasteht. Dieser Schauer des Unbekannten ist eine Quelle
der Religion.

Kommen wir zurück auf die Stärke der Sinne. Betrachten
wir es recht, was es heißt: stärkere Sinne haben? Mächtiger
von der Natur ergriffen, erregt sein, d. h. sinnlich, leiblich er-
griffen, d. h. leidend. Die Sinne sind beim Thiere breite Thore,
durch welche die äußere Natur mit solcher Macht in die Seele
einstürmt, daß diese unterworfen wird, Selbständigkeit und freie
Bewegung verliert. Bei den stumpfern Sinnen des Menschen ist
die menschliche Seele auch mehr gegen den überwältigenden
Eindruck der Außenwelt geschützt, und sie bleibt ihrer mäch-
tig. Sie nimmt durch die Sinne gerade so viel auf, als sie be-
darf und verarbeiten, sich assimiliren kann. Es findet also zwi-
schen Thier- und Menschenseele ein ähnlicher Unterschied statt,
wie zwischen Gefühl und Sinnesempfindung. Im sinnlichen Ge-
fühle erkennt die Seele die das Gefühl hervorrufende Außen-
welt nicht, weil sie zu sehr mit dem eigenen Körper beschäftigt
ist, zu sehr mit ihm leidet. Das geringere Leiden der Empfin-
dung gestattet ihr die Freiheit, das Bewußtsein, zu fragen:
woher kommt mir dies? und mit der Antwort hierauf eine Au-
ßenwelt zu setzen, anzuerkennen. In gleicher Weise nun kann
die Thierseele, von starken Sinnesempfindungen bestürmt und
unterjocht, sich nicht weiter entwickeln, nicht Gebieterinn ihrer
selbst und ihrer Empfindungen werden und letztere mannigfach
bearbeiten; aber die menschliche Seele, im Widerstande gegen
schwächere Empfindungen, bemächtigt sich derselben zur wei-

dadurch daß ihm die wirkliche sinnliche Anschauung von neuem
geboten wird. So ist es, nur in geringerer Menge, beim Thiere
auch. Wird nun aber eine neue Anschauung geboten, welche
noch mit keiner andern verknüpft sein kann, so starrt das Thier
gleichgültig; der Mensch aber, der sich in eine Reihe von An-
schauungen geführt sieht, bei deren keiner er Gelegenheit hat
etwas Bekanntes zu erwarten; dem hier bevorsteht, daß ihm
einzeln nach und nach mehrere Anschauungen ohne vorgängige
Erwartung geboten werden: er fühlt in dieser ungewohnten Weise
des Anschauens jene Beklemmung des Schauers, in welchem er
bei jedem Schritte erst der Erholung, der Wiederherstellung
des Gleichgewichts im Bewußtsein bedarf. Es ist kein Ablauf
einer Reihe von Anschauungen, wo Welle auf Welle folgt; son-
dern es sind abgebrochene Schritte, deren jeder für sich, un-
associirt dasteht. Dieser Schauer des Unbekannten ist eine Quelle
der Religion.

Kommen wir zurück auf die Stärke der Sinne. Betrachten
wir es recht, was es heißt: stärkere Sinne haben? Mächtiger
von der Natur ergriffen, erregt sein, d. h. sinnlich, leiblich er-
griffen, d. h. leidend. Die Sinne sind beim Thiere breite Thore,
durch welche die äußere Natur mit solcher Macht in die Seele
einstürmt, daß diese unterworfen wird, Selbständigkeit und freie
Bewegung verliert. Bei den stumpfern Sinnen des Menschen ist
die menschliche Seele auch mehr gegen den überwältigenden
Eindruck der Außenwelt geschützt, und sie bleibt ihrer mäch-
tig. Sie nimmt durch die Sinne gerade so viel auf, als sie be-
darf und verarbeiten, sich assimiliren kann. Es findet also zwi-
schen Thier- und Menschenseele ein ähnlicher Unterschied statt,
wie zwischen Gefühl und Sinnesempfindung. Im sinnlichen Ge-
fühle erkennt die Seele die das Gefühl hervorrufende Außen-
welt nicht, weil sie zu sehr mit dem eigenen Körper beschäftigt
ist, zu sehr mit ihm leidet. Das geringere Leiden der Empfin-
dung gestattet ihr die Freiheit, das Bewußtsein, zu fragen:
woher kommt mir dies? und mit der Antwort hierauf eine Au-
ßenwelt zu setzen, anzuerkennen. In gleicher Weise nun kann
die Thierseele, von starken Sinnesempfindungen bestürmt und
unterjocht, sich nicht weiter entwickeln, nicht Gebieterinn ihrer
selbst und ihrer Empfindungen werden und letztere mannigfach
bearbeiten; aber die menschliche Seele, im Widerstande gegen
schwächere Empfindungen, bemächtigt sich derselben zur wei-

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[285/0323] dadurch daß ihm die wirkliche sinnliche Anschauung von neuem geboten wird. So ist es, nur in geringerer Menge, beim Thiere auch. Wird nun aber eine neue Anschauung geboten, welche noch mit keiner andern verknüpft sein kann, so starrt das Thier gleichgültig; der Mensch aber, der sich in eine Reihe von An- schauungen geführt sieht, bei deren keiner er Gelegenheit hat etwas Bekanntes zu erwarten; dem hier bevorsteht, daß ihm einzeln nach und nach mehrere Anschauungen ohne vorgängige Erwartung geboten werden: er fühlt in dieser ungewohnten Weise des Anschauens jene Beklemmung des Schauers, in welchem er bei jedem Schritte erst der Erholung, der Wiederherstellung des Gleichgewichts im Bewußtsein bedarf. Es ist kein Ablauf einer Reihe von Anschauungen, wo Welle auf Welle folgt; son- dern es sind abgebrochene Schritte, deren jeder für sich, un- associirt dasteht. Dieser Schauer des Unbekannten ist eine Quelle der Religion. Kommen wir zurück auf die Stärke der Sinne. Betrachten wir es recht, was es heißt: stärkere Sinne haben? Mächtiger von der Natur ergriffen, erregt sein, d. h. sinnlich, leiblich er- griffen, d. h. leidend. Die Sinne sind beim Thiere breite Thore, durch welche die äußere Natur mit solcher Macht in die Seele einstürmt, daß diese unterworfen wird, Selbständigkeit und freie Bewegung verliert. Bei den stumpfern Sinnen des Menschen ist die menschliche Seele auch mehr gegen den überwältigenden Eindruck der Außenwelt geschützt, und sie bleibt ihrer mäch- tig. Sie nimmt durch die Sinne gerade so viel auf, als sie be- darf und verarbeiten, sich assimiliren kann. Es findet also zwi- schen Thier- und Menschenseele ein ähnlicher Unterschied statt, wie zwischen Gefühl und Sinnesempfindung. Im sinnlichen Ge- fühle erkennt die Seele die das Gefühl hervorrufende Außen- welt nicht, weil sie zu sehr mit dem eigenen Körper beschäftigt ist, zu sehr mit ihm leidet. Das geringere Leiden der Empfin- dung gestattet ihr die Freiheit, das Bewußtsein, zu fragen: woher kommt mir dies? und mit der Antwort hierauf eine Au- ßenwelt zu setzen, anzuerkennen. In gleicher Weise nun kann die Thierseele, von starken Sinnesempfindungen bestürmt und unterjocht, sich nicht weiter entwickeln, nicht Gebieterinn ihrer selbst und ihrer Empfindungen werden und letztere mannigfach bearbeiten; aber die menschliche Seele, im Widerstande gegen schwächere Empfindungen, bemächtigt sich derselben zur wei-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/323>, abgerufen am 22.11.2024.