die oben angeführten, lassen auch uns in unserer Sprache die volle verbale Lebendigkeit des Infinitivs fühlen.
Worin liegt nun also diese ganze Verbalnatur? Man irrt vollkommen, wenn man meint, in der Wurzel an sich liege auch nur im mindesten etwas von verbaler Natur. Die Wurzel des Verbums laufen bedeutet zwar eine Thätigkeit oder Bewegung. Dies macht aber gar nicht die Verbalnatur aus. Die Wörter: Zweifel, Bewegung, Vorgang, Rede, Anziehung, Theilung, Fluß, Fall, das Sinken und Steigen, Lauf, Tanz, Schlaf, Hunger und Durst u. s. w. u. s. w. bezeichnen Vorgänge als vorgehend, Zu- stände als seiend und sind darum doch noch keine Verba. Die Wurzel von laufen ist also die Indifferenz von laufen, Lauf, Läufer, laufend, läuft, läufig, welche alle Thätigkeit und Bewe- gung ausdrücken. Die Wurzel von laufen ist ein Wort, wenn auch noch kein vollkommenes; sie bezeichnet wenigstens keine ganze Anschauung, sondern nur einen Theil davon, z. B. von der Anschauung eines laufenden Hundes. Diese Theilanschauung ist der Stoff einer Vorstellung. Die Form aber fehlt noch gänz- lich. Darum hat die chinesische Sprache, welche bloß Wur- zeln hat, keine Form. Der Unterschied zwischen Nomen und Verbum aber ist ein rein formaler und ist mit der Wurzel noch gar nicht gegeben. Die Wurzel wird also bloß durch die Form zum Nomen oder Verbum. Folglich hat die chinesische Spra- che, die keine Form hat, kein Verbum, folglich keinen Infinitiv; und eben so wenig sind die Sanskritischen Wurzeln Infinitive, und die Infinitive bloß als Wörter bezeichnete Wurzeln; denn sie sind ja volle Verbalformen. Sie bezeichnen also auch nicht bloß "das reine Bewegen in der Zeit" und sind nicht "bloße, allgemeine und vage ausgedrückte Wahrnehmungen"; die Wur- zeln sind dies allerdings, die Infinitive aber sind Verbalformen.
Was gehört denn nun aber zur Verbalnatur? Erstlich und vorzüglich Personal-Beziehung; d. h. daß die Thätig- keit ausgesagt werde als Thätigkeit der redenden oder angere- deten oder besprochenen Person. Hieraus ergiebt sich nun zwei- tens, daß die Thätigkeit dargestellt wird als die unmittelbar aus der Person fließende "energische Kraftäußerung". Der Satz: die Rose blüht sagt nicht aus, man urtheile dem Begriffe Rose den Begriff blühen zu; sondern er stellt die Thätigkeit des Blü- hens als die Energie der Rose dar, reißt aber damit zugleich unsere Vorstellung Rose heraus aus der Abstraction, wie wir
die oben angeführten, lassen auch uns in unserer Sprache die volle verbale Lebendigkeit des Infinitivs fühlen.
Worin liegt nun also diese ganze Verbalnatur? Man irrt vollkommen, wenn man meint, in der Wurzel an sich liege auch nur im mindesten etwas von verbaler Natur. Die Wurzel des Verbums laufen bedeutet zwar eine Thätigkeit oder Bewegung. Dies macht aber gar nicht die Verbalnatur aus. Die Wörter: Zweifel, Bewegung, Vorgang, Rede, Anziehung, Theilung, Fluß, Fall, das Sinken und Steigen, Lauf, Tanz, Schlaf, Hunger und Durst u. s. w. u. s. w. bezeichnen Vorgänge als vorgehend, Zu- stände als seiend und sind darum doch noch keine Verba. Die Wurzel von laufen ist also die Indifferenz von laufen, Lauf, Läufer, laufend, läuft, läufig, welche alle Thätigkeit und Bewe- gung ausdrücken. Die Wurzel von laufen ist ein Wort, wenn auch noch kein vollkommenes; sie bezeichnet wenigstens keine ganze Anschauung, sondern nur einen Theil davon, z. B. von der Anschauung eines laufenden Hundes. Diese Theilanschauung ist der Stoff einer Vorstellung. Die Form aber fehlt noch gänz- lich. Darum hat die chinesische Sprache, welche bloß Wur- zeln hat, keine Form. Der Unterschied zwischen Nomen und Verbum aber ist ein rein formaler und ist mit der Wurzel noch gar nicht gegeben. Die Wurzel wird also bloß durch die Form zum Nomen oder Verbum. Folglich hat die chinesische Spra- che, die keine Form hat, kein Verbum, folglich keinen Infinitiv; und eben so wenig sind die Sanskritischen Wurzeln Infinitive, und die Infinitive bloß als Wörter bezeichnete Wurzeln; denn sie sind ja volle Verbalformen. Sie bezeichnen also auch nicht bloß „das reine Bewegen in der Zeit“ und sind nicht „bloße, allgemeine und vage ausgedrückte Wahrnehmungen“; die Wur- zeln sind dies allerdings, die Infinitive aber sind Verbalformen.
Was gehört denn nun aber zur Verbalnatur? Erstlich und vorzüglich Personal-Beziehung; d. h. daß die Thätig- keit ausgesagt werde als Thätigkeit der redenden oder angere- deten oder besprochenen Person. Hieraus ergiebt sich nun zwei- tens, daß die Thätigkeit dargestellt wird als die unmittelbar aus der Person fließende „energische Kraftäußerung“. Der Satz: die Rose blüht sagt nicht aus, man urtheile dem Begriffe Rose den Begriff blühen zu; sondern er stellt die Thätigkeit des Blü- hens als die Energie der Rose dar, reißt aber damit zugleich unsere Vorstellung Rose heraus aus der Abstraction, wie wir
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die oben angeführten, lassen auch uns in unserer Sprache die
volle verbale Lebendigkeit des Infinitivs fühlen.
Worin liegt nun also diese ganze Verbalnatur? Man irrt
vollkommen, wenn man meint, in der Wurzel an sich liege auch
nur im mindesten etwas von verbaler Natur. Die Wurzel des
Verbums laufen bedeutet zwar eine Thätigkeit oder Bewegung.
Dies macht aber gar nicht die Verbalnatur aus. Die Wörter:
Zweifel, Bewegung, Vorgang, Rede, Anziehung, Theilung, Fluß,
Fall, das Sinken und Steigen, Lauf, Tanz, Schlaf, Hunger und
Durst u. s. w. u. s. w. bezeichnen Vorgänge als vorgehend, Zu-
stände als seiend und sind darum doch noch keine Verba. Die
Wurzel von laufen ist also die Indifferenz von laufen, Lauf,
Läufer, laufend, läuft, läufig, welche alle Thätigkeit und Bewe-
gung ausdrücken. Die Wurzel von laufen ist ein Wort, wenn
auch noch kein vollkommenes; sie bezeichnet wenigstens keine
ganze Anschauung, sondern nur einen Theil davon, z. B. von
der Anschauung eines laufenden Hundes. Diese Theilanschauung
ist der Stoff einer Vorstellung. Die Form aber fehlt noch gänz-
lich. Darum hat die chinesische Sprache, welche bloß Wur-
zeln hat, keine Form. Der Unterschied zwischen Nomen und
Verbum aber ist ein rein formaler und ist mit der Wurzel noch
gar nicht gegeben. Die Wurzel wird also bloß durch die Form
zum Nomen oder Verbum. Folglich hat die chinesische Spra-
che, die keine Form hat, kein Verbum, folglich keinen Infinitiv;
und eben so wenig sind die Sanskritischen Wurzeln Infinitive,
und die Infinitive bloß als Wörter bezeichnete Wurzeln; denn
sie sind ja volle Verbalformen. Sie bezeichnen also auch nicht
bloß „das reine Bewegen in der Zeit“ und sind nicht „bloße,
allgemeine und vage ausgedrückte Wahrnehmungen“; die Wur-
zeln sind dies allerdings, die Infinitive aber sind Verbalformen.
Was gehört denn nun aber zur Verbalnatur? Erstlich
und vorzüglich Personal-Beziehung; d. h. daß die Thätig-
keit ausgesagt werde als Thätigkeit der redenden oder angere-
deten oder besprochenen Person. Hieraus ergiebt sich nun zwei-
tens, daß die Thätigkeit dargestellt wird als die unmittelbar
aus der Person fließende „energische Kraftäußerung“. Der Satz:
die Rose blüht sagt nicht aus, man urtheile dem Begriffe Rose
den Begriff blühen zu; sondern er stellt die Thätigkeit des Blü-
hens als die Energie der Rose dar, reißt aber damit zugleich
unsere Vorstellung Rose heraus aus der Abstraction, wie wir
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/408>, abgerufen am 19.12.2024.
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