sie im Kopfe tragen, versetzt sie in die Wirklichkeit hinein, stellt sie unserm instinctiven Selbstbewußtsein zur Anschauung vor, als die gemäß ihrer Energie blühende. Wenn Herbart, wie wie oben (S. 171) sahen, bemerkt: "in dem Urtheile: diese Begebenheit ist erfreulich" (oder gar: erfreut mich sehr) "wird niemand die Eigenschaft zu erfreuen für eine zum Ereignisse selbst gehörige, ihm eigentlich inhärirende Bestimmung" (oder aus ihm fließende energische Handlung) "halten, da sich die- selbe bloß auf subjective Gefühle bezieht": so antworten wir, daß dies kein Logiker und Metaphysiker thun wird; das in- stinctive oder vorstellende oder sprachliche Selbstbewußtsein aber thut es allerdings; es belebt im Verbum jedes Subject und theilt ihm handelnde Kraft zu. Hieraus ergiebt sich drittens, daß das Verbum, und zwar es allein, energisch genug ist, um die prädicative Aussage zu enthalten und den Satz zu bilden.
Messen wir hieran den Infinitiv und die Participien und Ge- rundien: so fehlt ihnen, um mit dem scheinbar Zweifellosen zu beginnen, das dritte Merkmal: sie enthalten die prädicative Aus- sage nicht. Gleichwohl, und das ist mindestens eben so sicher, fehlt es ihnen nicht an der vollen verbalen Energie. Nun be- haupte ich aber, und dieser Punkt entscheidet, daß ihnen die Personalbeziehung nicht fehlt. Sie liegt in ihnen nur versteckt, weil in einer andern Form, als im Verbum finitum: in diesem nämlich liegt sie in finiter, bestimmter Weise, d. h. bestimmt als erste oder zweite oder dritte Person, im Infinitiv aber und den Participien und Gerundien in infiniter, unbestimmter Weise als Beziehung auf Persönlichkeit überhaupt, gleichgültig dagegen, ob es die erste, zweite oder dritte Person ist. Daher kann der Infinitiv nur da stehen, wo keine Zweideutigkeit Statt hat, kein Zweifel darüber möglich ist, auf welche Person er sich beziehe. Ich will essen bedeutet also volo ut comedam. Der Infinitiv drückt energisch die Personalbeziehung aus; und weil es sich von selbst versteht, daß die Person, auf welche er sich bezieht, im Beispiele die erste ist, so genügt er vollkommen. Soll aber gesagt werden volo ut comedas, comedat, so kann nicht gesagt werden: ich will essen, weil eben nicht zu ersehen wäre, auf welche Person sich der Infinitiv beziehen solle.
Der Infinitiv steht daher in substantivischen Nebensätzen, wenn sie dasselbe Subject wie der Hauptsatz haben: ich fürchte zu fallen; ich fürchte, daß du fällst. Hier ist sicherlich zu
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sie im Kopfe tragen, versetzt sie in die Wirklichkeit hinein, stellt sie unserm instinctiven Selbstbewußtsein zur Anschauung vor, als die gemäß ihrer Energie blühende. Wenn Herbart, wie wie oben (S. 171) sahen, bemerkt: „in dem Urtheile: diese Begebenheit ist erfreulich“ (oder gar: erfreut mich sehr) „wird niemand die Eigenschaft zu erfreuen für eine zum Ereignisse selbst gehörige, ihm eigentlich inhärirende Bestimmung“ (oder aus ihm fließende energische Handlung) „halten, da sich die- selbe bloß auf subjective Gefühle bezieht“: so antworten wir, daß dies kein Logiker und Metaphysiker thun wird; das in- stinctive oder vorstellende oder sprachliche Selbstbewußtsein aber thut es allerdings; es belebt im Verbum jedes Subject und theilt ihm handelnde Kraft zu. Hieraus ergiebt sich drittens, daß das Verbum, und zwar es allein, energisch genug ist, um die prädicative Aussage zu enthalten und den Satz zu bilden.
Messen wir hieran den Infinitiv und die Participien und Ge- rundien: so fehlt ihnen, um mit dem scheinbar Zweifellosen zu beginnen, das dritte Merkmal: sie enthalten die prädicative Aus- sage nicht. Gleichwohl, und das ist mindestens eben so sicher, fehlt es ihnen nicht an der vollen verbalen Energie. Nun be- haupte ich aber, und dieser Punkt entscheidet, daß ihnen die Personalbeziehung nicht fehlt. Sie liegt in ihnen nur versteckt, weil in einer andern Form, als im Verbum finitum: in diesem nämlich liegt sie in finiter, bestimmter Weise, d. h. bestimmt als erste oder zweite oder dritte Person, im Infinitiv aber und den Participien und Gerundien in infiniter, unbestimmter Weise als Beziehung auf Persönlichkeit überhaupt, gleichgültig dagegen, ob es die erste, zweite oder dritte Person ist. Daher kann der Infinitiv nur da stehen, wo keine Zweideutigkeit Statt hat, kein Zweifel darüber möglich ist, auf welche Person er sich beziehe. Ich will essen bedeutet also volo ut comedam. Der Infinitiv drückt energisch die Personalbeziehung aus; und weil es sich von selbst versteht, daß die Person, auf welche er sich bezieht, im Beispiele die erste ist, so genügt er vollkommen. Soll aber gesagt werden volo ut comedas, comedat, so kann nicht gesagt werden: ich will essen, weil eben nicht zu ersehen wäre, auf welche Person sich der Infinitiv beziehen solle.
Der Infinitiv steht daher in substantivischen Nebensätzen, wenn sie dasselbe Subject wie der Hauptsatz haben: ich fürchte zu fallen; ich fürchte, daß du fällst. Hier ist sicherlich zu
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sie im Kopfe tragen, versetzt sie in die Wirklichkeit hinein,
stellt sie unserm instinctiven Selbstbewußtsein zur Anschauung
vor, als die gemäß ihrer Energie blühende. Wenn Herbart,
wie wie oben (S. 171) sahen, bemerkt: „in dem Urtheile: diese
Begebenheit ist erfreulich“ (oder gar: erfreut mich sehr) „wird
niemand die Eigenschaft zu erfreuen für eine zum Ereignisse
selbst gehörige, ihm eigentlich inhärirende Bestimmung“ (oder
aus ihm fließende energische Handlung) „halten, da sich die-
selbe bloß auf subjective Gefühle bezieht“: so antworten wir,
daß dies kein Logiker und Metaphysiker thun wird; das in-
stinctive oder vorstellende oder sprachliche Selbstbewußtsein aber
thut es allerdings; es belebt im Verbum jedes Subject und theilt
ihm handelnde Kraft zu. Hieraus ergiebt sich drittens, daß
das Verbum, und zwar es allein, energisch genug ist, um die
prädicative Aussage zu enthalten und den Satz zu bilden.
Messen wir hieran den Infinitiv und die Participien und Ge-
rundien: so fehlt ihnen, um mit dem scheinbar Zweifellosen zu
beginnen, das dritte Merkmal: sie enthalten die prädicative Aus-
sage nicht. Gleichwohl, und das ist mindestens eben so sicher,
fehlt es ihnen nicht an der vollen verbalen Energie. Nun be-
haupte ich aber, und dieser Punkt entscheidet, daß ihnen die
Personalbeziehung nicht fehlt. Sie liegt in ihnen nur versteckt,
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nämlich liegt sie in finiter, bestimmter Weise, d. h. bestimmt als
erste oder zweite oder dritte Person, im Infinitiv aber und den
Participien und Gerundien in infiniter, unbestimmter Weise als
Beziehung auf Persönlichkeit überhaupt, gleichgültig dagegen,
ob es die erste, zweite oder dritte Person ist. Daher kann der
Infinitiv nur da stehen, wo keine Zweideutigkeit Statt hat, kein
Zweifel darüber möglich ist, auf welche Person er sich beziehe.
Ich will essen bedeutet also volo ut comedam. Der Infinitiv
drückt energisch die Personalbeziehung aus; und weil es sich
von selbst versteht, daß die Person, auf welche er sich bezieht,
im Beispiele die erste ist, so genügt er vollkommen. Soll aber
gesagt werden volo ut comedas, comedat, so kann nicht gesagt
werden: ich will essen, weil eben nicht zu ersehen wäre, auf
welche Person sich der Infinitiv beziehen solle.
Der Infinitiv steht daher in substantivischen Nebensätzen,
wenn sie dasselbe Subject wie der Hauptsatz haben: ich fürchte
zu fallen; ich fürchte, daß du fällst. Hier ist sicherlich zu
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/409>, abgerufen am 19.12.2024.
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