heit bezeichnete Mannigfaltigkeit der Lebenserscheinungen" in höherem Grade als bei den Thieren und hier mehr als in den Pflanzen, am wenigsten im Krystall; aber wiederum findet sie sich beim Menschen "in weit geringerem Maaße in den Functio- nen des Athmens, der Blutbewegung und der Ernährung, wel- che dem vegetativen Leben angehören, als in der Function der Willkürbewegung; und die größte Freiheit waltet in derjenigen Function, in welcher das organische Leben sich zu einem gei- stigen gesteigert hat, nämlich in der Function des Denkens, ob- gleich auch diese eine organische Nothwendigkeit nicht gänz- lich" (d. h. nach Obigem: "nicht eigentlich") "ausschließt."
Ueber diese Blasphemie mögen wir nicht viel Worte ma- chen; wir wollen sie eben nur anmerken und sie Becker in Rechnung bringen. Für uns haben allerdings die ethischen Be- ziehungen der Wissenschaft einen hohen, den höchsten Werth. Man läugne die Freiheit, wie es Spinoza thut; er läßt sie untergehen in der unendlichen Substanz: das ist erhaben; und die Erhabenheit, wie sehr sie auch die Nichtigkeit des Men- schen betont, ist wesentlich erhebend. Daher hatten auch die Hebräer, von denen sie zuerst geschaffen wurde, indem sie den Menschen und das All vor Jehova als nichts setzten, eine er- hebendere Vorstellung vom Wesen des Menschen, dem Eben- bilde Jehovas, als die Griechen, die ihre Götter als Ebenbilder der Menschen schufen. Also man läugne die Freiheit spino- zistisch! aber sie behaupten, doch so daß man sie "eigentlich" läugnet und, insofern man sie gelten läßt, sie als Wechselspiel bedeutungsloser Formen ansieht: das ist Blasphemie.
§. 6. Der Tod.
Ein Mann, der so mit der Freiheit fertig wird, "spielend," wie sollte sich der vor dem Tode scheuen? Becker würde also schwerlich in Verlegenheit kommen, wenn wir ihn fragten: wo ist der Tod, das Sterben? das hast du ja ganz aus deinem lebenden All, deinem All-Leben gestrichen! Der sich auflösende animalische Leib kann doch nicht todt genannt werden; denn die darin sich bildenden Körper, wie Wasser, Ammoniak u. s. w., entstehen hier in durchaus natürlicher, gesetzmäßiger Weise mit innerer Nothwendigkeit: sie entwickeln sich im organischen Kör- per wie das Ei von innen heraus. Leben bleibt Leben; denn es giebt nur Leben und nur ein Leben nach Becker. Was wir sterben nennen, ist nur der Wandel einer Art des Lebens
heit bezeichnete Mannigfaltigkeit der Lebenserscheinungen” in höherem Grade als bei den Thieren und hier mehr als in den Pflanzen, am wenigsten im Krystall; aber wiederum findet sie sich beim Menschen „in weit geringerem Maaße in den Functio- nen des Athmens, der Blutbewegung und der Ernährung, wel- che dem vegetativen Leben angehören, als in der Function der Willkürbewegung; und die größte Freiheit waltet in derjenigen Function, in welcher das organische Leben sich zu einem gei- stigen gesteigert hat, nämlich in der Function des Denkens, ob- gleich auch diese eine organische Nothwendigkeit nicht gänz- lich” (d. h. nach Obigem: „nicht eigentlich”) „ausschließt.”
Ueber diese Blasphemie mögen wir nicht viel Worte ma- chen; wir wollen sie eben nur anmerken und sie Becker in Rechnung bringen. Für uns haben allerdings die ethischen Be- ziehungen der Wissenschaft einen hohen, den höchsten Werth. Man läugne die Freiheit, wie es Spinoza thut; er läßt sie untergehen in der unendlichen Substanz: das ist erhaben; und die Erhabenheit, wie sehr sie auch die Nichtigkeit des Men- schen betont, ist wesentlich erhebend. Daher hatten auch die Hebräer, von denen sie zuerst geschaffen wurde, indem sie den Menschen und das All vor Jehova als nichts setzten, eine er- hebendere Vorstellung vom Wesen des Menschen, dem Eben- bilde Jehovas, als die Griechen, die ihre Götter als Ebenbilder der Menschen schufen. Also man läugne die Freiheit spino- zistisch! aber sie behaupten, doch so daß man sie „eigentlich“ läugnet und, insofern man sie gelten läßt, sie als Wechselspiel bedeutungsloser Formen ansieht: das ist Blasphemie.
§. 6. Der Tod.
Ein Mann, der so mit der Freiheit fertig wird, „spielend,“ wie sollte sich der vor dem Tode scheuen? Becker würde also schwerlich in Verlegenheit kommen, wenn wir ihn fragten: wo ist der Tod, das Sterben? das hast du ja ganz aus deinem lebenden All, deinem All-Leben gestrichen! Der sich auflösende animalische Leib kann doch nicht todt genannt werden; denn die darin sich bildenden Körper, wie Wasser, Ammoniak u. s. w., entstehen hier in durchaus natürlicher, gesetzmäßiger Weise mit innerer Nothwendigkeit: sie entwickeln sich im organischen Kör- per wie das Ei von innen heraus. Leben bleibt Leben; denn es giebt nur Leben und nur ein Leben nach Becker. Was wir sterben nennen, ist nur der Wandel einer Art des Lebens
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heit bezeichnete Mannigfaltigkeit der Lebenserscheinungen” in
höherem Grade als bei den Thieren und hier mehr als in den
Pflanzen, am wenigsten im Krystall; aber wiederum findet sie
sich beim Menschen „in weit geringerem Maaße in den Functio-
nen des Athmens, der Blutbewegung und der Ernährung, wel-
che dem vegetativen Leben angehören, als in der Function der
Willkürbewegung; und die größte Freiheit waltet in derjenigen
Function, in welcher das organische Leben sich zu einem gei-
stigen gesteigert hat, nämlich in der Function des Denkens, ob-
gleich auch diese eine organische Nothwendigkeit nicht gänz-
lich” (d. h. nach Obigem: „nicht eigentlich”) „ausschließt.”
Ueber diese Blasphemie mögen wir nicht viel Worte ma-
chen; wir wollen sie eben nur anmerken und sie Becker in
Rechnung bringen. Für uns haben allerdings die ethischen Be-
ziehungen der Wissenschaft einen hohen, den höchsten Werth.
Man läugne die Freiheit, wie es Spinoza thut; er läßt sie
untergehen in der unendlichen Substanz: das ist erhaben; und
die Erhabenheit, wie sehr sie auch die Nichtigkeit des Men-
schen betont, ist wesentlich erhebend. Daher hatten auch die
Hebräer, von denen sie zuerst geschaffen wurde, indem sie den
Menschen und das All vor Jehova als nichts setzten, eine er-
hebendere Vorstellung vom Wesen des Menschen, dem Eben-
bilde Jehovas, als die Griechen, die ihre Götter als Ebenbilder
der Menschen schufen. Also man läugne die Freiheit spino-
zistisch! aber sie behaupten, doch so daß man sie „eigentlich“
läugnet und, insofern man sie gelten läßt, sie als Wechselspiel
bedeutungsloser Formen ansieht: das ist Blasphemie.
§. 6. Der Tod.
Ein Mann, der so mit der Freiheit fertig wird, „spielend,“
wie sollte sich der vor dem Tode scheuen? Becker würde
also schwerlich in Verlegenheit kommen, wenn wir ihn fragten:
wo ist der Tod, das Sterben? das hast du ja ganz aus deinem
lebenden All, deinem All-Leben gestrichen! Der sich auflösende
animalische Leib kann doch nicht todt genannt werden; denn
die darin sich bildenden Körper, wie Wasser, Ammoniak u. s. w.,
entstehen hier in durchaus natürlicher, gesetzmäßiger Weise mit
innerer Nothwendigkeit: sie entwickeln sich im organischen Kör-
per wie das Ei von innen heraus. Leben bleibt Leben; denn
es giebt nur Leben und nur ein Leben nach Becker. Was
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/48>, abgerufen am 03.12.2024.
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