Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

in die andere. Tod ist Spiel des Lebens -- eine Unsterblich-
keitslehre, würdig der obigen Freiheitslehre.

§. 7. Formale Natur des Begriffs Organismus.

Kehren wir zu Beckers Grundbestimmung des Organis-
mus zurück. Diese beruhte darauf, daß Becker in dem All
einen verleiblichten Gedanken erkannte, daß er die Natur als
sich nach einem Zwecke bestimmend, daß er sie teleologisch
ansah. Wir wollen und können Becker nicht das Recht zu
dieser Anschauungsweise bestreiten; sie ist nicht willkürlich sub-
jectiv; sondern die objectiven Verhältnisse der Natur fordern
dazu auf. Becker setzt also den Gedanken der Natur vor ih-
rer Schöpfung als den Zweck der Natur. Der Zweck ist es,
der jedem Organ seine besondere Gestalt giebt, und der Begriff
einer Thierart verleiht als Zweck allen einzelnen Organen, wie
Gebiß, Klaue u. s. w., den bestimmten Typus. Die bestimm-
teste Definition, die sich nach Becker vom organischen Dinge
geben ließe, wäre also: ein organisches Ding ist ein von der
Natur gesetzter und ausgeführter Zweck. So berechtigt nun
auch diese Betrachtungsweise der Natur ist, oder vielmehr ganz
abgesehen von der Berechtigung, auf die es uns hier nicht an-
kommt, ist aber das hervorzuheben, daß Beckers Begriff des Or-
ganismus, auf der Kategorie des Zweckes beruhend, gar keinen
materialen, sondern formalen Gehalt hat: daß er kein gegen-
ständliches Merkmal am Dinge, sondern eine Betrachtungsweise
des Dinges bezeichnet; daß er kein constitutiver, sondern ein
methodologischer Begriff ist. Wir läugnen hiermit nicht, daß
die organische Anschauungsweise, die Betrachtung der Natur
vom Gesichtspunkte des Zweckes aus, die Thatsachen innerlichst
berührt; sie nämlich in veränderte Beziehungen versetzt; aber
sie fügt nichts Neues, Thatsächliches hinzu und ist nur eine an-
dere Auffassung der thatsächlich vorliegenden Beziehungen; sie sieht
nicht mehr, auch nicht anderes, sondern sieht dasselbe, aber an-
ders; sie verfährt mit denselben gegebenen Elementen in ande-
rer Weise. Der Gegensatz zur teleologischen Betrachtung liegt
in der causalen. Die Elemente, wie gesagt, sind in dieser die-
selben wie in jener; aber ihre Beziehung wird verändert, je nach-
dem das schöpferische Element als Ursache oder Zweck gefaßt
wird. Der Zweck kann sich nie anders als vermittelst der Ur-
sachen verwirklichen und reicht nicht weiter als sie. Wirkende
Kräfte der Natur bilden einen Punkt a, gewirkte Erscheinungen

in die andere. Tod ist Spiel des Lebens — eine Unsterblich-
keitslehre, würdig der obigen Freiheitslehre.

§. 7. Formale Natur des Begriffs Organismus.

Kehren wir zu Beckers Grundbestimmung des Organis-
mus zurück. Diese beruhte darauf, daß Becker in dem All
einen verleiblichten Gedanken erkannte, daß er die Natur als
sich nach einem Zwecke bestimmend, daß er sie teleologisch
ansah. Wir wollen und können Becker nicht das Recht zu
dieser Anschauungsweise bestreiten; sie ist nicht willkürlich sub-
jectiv; sondern die objectiven Verhältnisse der Natur fordern
dazu auf. Becker setzt also den Gedanken der Natur vor ih-
rer Schöpfung als den Zweck der Natur. Der Zweck ist es,
der jedem Organ seine besondere Gestalt giebt, und der Begriff
einer Thierart verleiht als Zweck allen einzelnen Organen, wie
Gebiß, Klaue u. s. w., den bestimmten Typus. Die bestimm-
teste Definition, die sich nach Becker vom organischen Dinge
geben ließe, wäre also: ein organisches Ding ist ein von der
Natur gesetzter und ausgeführter Zweck. So berechtigt nun
auch diese Betrachtungsweise der Natur ist, oder vielmehr ganz
abgesehen von der Berechtigung, auf die es uns hier nicht an-
kommt, ist aber das hervorzuheben, daß Beckers Begriff des Or-
ganismus, auf der Kategorie des Zweckes beruhend, gar keinen
materialen, sondern formalen Gehalt hat: daß er kein gegen-
ständliches Merkmal am Dinge, sondern eine Betrachtungsweise
des Dinges bezeichnet; daß er kein constitutiver, sondern ein
methodologischer Begriff ist. Wir läugnen hiermit nicht, daß
die organische Anschauungsweise, die Betrachtung der Natur
vom Gesichtspunkte des Zweckes aus, die Thatsachen innerlichst
berührt; sie nämlich in veränderte Beziehungen versetzt; aber
sie fügt nichts Neues, Thatsächliches hinzu und ist nur eine an-
dere Auffassung der thatsächlich vorliegenden Beziehungen; sie sieht
nicht mehr, auch nicht anderes, sondern sieht dasselbe, aber an-
ders; sie verfährt mit denselben gegebenen Elementen in ande-
rer Weise. Der Gegensatz zur teleologischen Betrachtung liegt
in der causalen. Die Elemente, wie gesagt, sind in dieser die-
selben wie in jener; aber ihre Beziehung wird verändert, je nach-
dem das schöpferische Element als Ursache oder Zweck gefaßt
wird. Der Zweck kann sich nie anders als vermittelst der Ur-
sachen verwirklichen und reicht nicht weiter als sie. Wirkende
Kräfte der Natur bilden einen Punkt a, gewirkte Erscheinungen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0049" n="11"/>
in die andere. Tod ist Spiel des Lebens &#x2014; eine Unsterblich-<lb/>
keitslehre, würdig der obigen Freiheitslehre.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 7. Formale Natur des Begriffs Organismus.</head><lb/>
                <p>Kehren wir zu Beckers Grundbestimmung des Organis-<lb/>
mus zurück. Diese beruhte darauf, daß Becker in dem All<lb/>
einen verleiblichten Gedanken erkannte, daß er die Natur als<lb/>
sich nach einem Zwecke bestimmend, daß er sie teleologisch<lb/>
ansah. Wir wollen und können Becker nicht das Recht zu<lb/>
dieser Anschauungsweise bestreiten; sie ist nicht willkürlich sub-<lb/>
jectiv; sondern die objectiven Verhältnisse der Natur fordern<lb/>
dazu auf. Becker setzt also den Gedanken der Natur vor ih-<lb/>
rer Schöpfung als den Zweck der Natur. Der Zweck ist es,<lb/>
der jedem Organ seine besondere Gestalt giebt, und der Begriff<lb/>
einer Thierart verleiht als Zweck allen einzelnen Organen, wie<lb/>
Gebiß, Klaue u. s. w., den bestimmten Typus. Die bestimm-<lb/>
teste Definition, die sich nach Becker vom organischen Dinge<lb/>
geben ließe, wäre also: ein organisches Ding ist ein von der<lb/>
Natur gesetzter und ausgeführter Zweck. So berechtigt nun<lb/>
auch diese Betrachtungsweise der Natur ist, oder vielmehr ganz<lb/>
abgesehen von der Berechtigung, auf die es uns hier nicht an-<lb/>
kommt, ist aber das hervorzuheben, daß Beckers Begriff des Or-<lb/>
ganismus, auf der Kategorie des Zweckes beruhend, gar keinen<lb/>
materialen, sondern formalen Gehalt hat: daß er kein gegen-<lb/>
ständliches Merkmal am Dinge, sondern eine Betrachtungsweise<lb/>
des Dinges bezeichnet; daß er kein constitutiver, sondern ein<lb/>
methodologischer Begriff ist. Wir läugnen hiermit nicht, daß<lb/>
die organische Anschauungsweise, die Betrachtung der Natur<lb/>
vom Gesichtspunkte des Zweckes aus, die Thatsachen innerlichst<lb/>
berührt; sie nämlich in veränderte Beziehungen versetzt; aber<lb/>
sie fügt nichts Neues, Thatsächliches hinzu und ist nur eine an-<lb/>
dere Auffassung der thatsächlich vorliegenden Beziehungen; sie sieht<lb/>
nicht mehr, auch nicht anderes, sondern sieht dasselbe, aber an-<lb/>
ders; sie verfährt mit denselben gegebenen Elementen in ande-<lb/>
rer Weise. Der Gegensatz zur teleologischen Betrachtung liegt<lb/>
in der causalen. Die Elemente, wie gesagt, sind in dieser die-<lb/>
selben wie in jener; aber ihre Beziehung wird verändert, je nach-<lb/>
dem das schöpferische Element als Ursache oder Zweck gefaßt<lb/>
wird. Der Zweck kann sich nie anders als vermittelst der Ur-<lb/>
sachen verwirklichen und reicht nicht weiter als sie. Wirkende<lb/>
Kräfte der Natur bilden einen Punkt <hi rendition="#i">a</hi>, gewirkte Erscheinungen<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[11/0049] in die andere. Tod ist Spiel des Lebens — eine Unsterblich- keitslehre, würdig der obigen Freiheitslehre. §. 7. Formale Natur des Begriffs Organismus. Kehren wir zu Beckers Grundbestimmung des Organis- mus zurück. Diese beruhte darauf, daß Becker in dem All einen verleiblichten Gedanken erkannte, daß er die Natur als sich nach einem Zwecke bestimmend, daß er sie teleologisch ansah. Wir wollen und können Becker nicht das Recht zu dieser Anschauungsweise bestreiten; sie ist nicht willkürlich sub- jectiv; sondern die objectiven Verhältnisse der Natur fordern dazu auf. Becker setzt also den Gedanken der Natur vor ih- rer Schöpfung als den Zweck der Natur. Der Zweck ist es, der jedem Organ seine besondere Gestalt giebt, und der Begriff einer Thierart verleiht als Zweck allen einzelnen Organen, wie Gebiß, Klaue u. s. w., den bestimmten Typus. Die bestimm- teste Definition, die sich nach Becker vom organischen Dinge geben ließe, wäre also: ein organisches Ding ist ein von der Natur gesetzter und ausgeführter Zweck. So berechtigt nun auch diese Betrachtungsweise der Natur ist, oder vielmehr ganz abgesehen von der Berechtigung, auf die es uns hier nicht an- kommt, ist aber das hervorzuheben, daß Beckers Begriff des Or- ganismus, auf der Kategorie des Zweckes beruhend, gar keinen materialen, sondern formalen Gehalt hat: daß er kein gegen- ständliches Merkmal am Dinge, sondern eine Betrachtungsweise des Dinges bezeichnet; daß er kein constitutiver, sondern ein methodologischer Begriff ist. Wir läugnen hiermit nicht, daß die organische Anschauungsweise, die Betrachtung der Natur vom Gesichtspunkte des Zweckes aus, die Thatsachen innerlichst berührt; sie nämlich in veränderte Beziehungen versetzt; aber sie fügt nichts Neues, Thatsächliches hinzu und ist nur eine an- dere Auffassung der thatsächlich vorliegenden Beziehungen; sie sieht nicht mehr, auch nicht anderes, sondern sieht dasselbe, aber an- ders; sie verfährt mit denselben gegebenen Elementen in ande- rer Weise. Der Gegensatz zur teleologischen Betrachtung liegt in der causalen. Die Elemente, wie gesagt, sind in dieser die- selben wie in jener; aber ihre Beziehung wird verändert, je nach- dem das schöpferische Element als Ursache oder Zweck gefaßt wird. Der Zweck kann sich nie anders als vermittelst der Ur- sachen verwirklichen und reicht nicht weiter als sie. Wirkende Kräfte der Natur bilden einen Punkt a, gewirkte Erscheinungen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/49
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/49>, abgerufen am 21.11.2024.