verstanden haben! Was können sie mit ihm gemein haben! Wie hat Humboldt mit diesen Gegensätzen in der Natur der Sprache, daß sie ewig werdend und immer geworden, flüssig und fest, ganz und gar individuell und durchaus allgemein, Schöpfung des Einzelnen und doch des Geschlechts, durchaus menschlich und wesentlich über den Menschen hinausgreifend, vom Men- schen geschaffen und doch unerschaffen -- wie hat Humboldt, sage ich, hiermit gerungen! Man muß es nicht bloß gelesen haben, sondern mitfühlen! Denn auch Begriffe, Dialektik und Speculation wollen gefühlt sein! Und dann dagegen Becker! --
§. 14. Entstehung der Sprache.
Hiermit haben wir Beckers Grundgedanken geprüft und nichts als leere Tautologien, Phrasen gefunden. Wir wollen aber noch, bevor wir weiter gehen, seine Ansicht über die Entstehung der Sprache prüfen. Dieser Punkt ist schon bei Gelegenheit des ersten organischen Merkmals der Sprache besprochen wor- den. Das dort Gesagte hat sich für uns in nichts aufgelöst. Da aber dieser Punkt so wichtig ist, so müssen wir sehen, ob viel- leicht an einem anderen Orte, wo derselbe ausführlicher darge- stellt wird, die Phrase der organischen Verleiblichung des Gei- stigen einen wahren Gehalt findet. Becker sagt in seinem Werke "Das Wort" (S. 252): "Wenn man in der Sprache eine organische Verrichtung erkennt, welche in dem menschlichen Organism mit der Einheit des geistigen und leiblichen Lebens gegeben ist, und ebenso wie die anderen organischen Functionen ein ergänzendes Glied in der Kette der menschlichen Lebens- verrichtungen ist; so kann die Frage nach dem Ursprunge der Sprache nur den Sinn haben, wie der Mensch zuerst zu der Ausübung der Function gelangt sei. Die Fähigkeit zu einer organischen Function ist gegeben durch den Apparat der dieser Function angehörigen Organe, z. B. die Fähigkeit zum Athmen durch den Apparat der Respirationsorgane. Zu der wirklichen Ausübung ist aber nach einem allgemeinen Gesetze außer dem Apparate von Organen erforderlich, daß irgend ein Reiz von außen auf die Organe einwirke und sie zur Thätigkeit anrege. Dieser Reiz ist z. B. für die Function des Athmens die atmo- sphärische Luft und für die Function der Verdauung Speise und Trank. Wenden wir dieses auf die Sprachfunction an; so ist die Fähigkeit zum Sprechen gegeben durch den Apparat der
verstanden haben! Was können sie mit ihm gemein haben! Wie hat Humboldt mit diesen Gegensätzen in der Natur der Sprache, daß sie ewig werdend und immer geworden, flüssig und fest, ganz und gar individuell und durchaus allgemein, Schöpfung des Einzelnen und doch des Geschlechts, durchaus menschlich und wesentlich über den Menschen hinausgreifend, vom Men- schen geschaffen und doch unerschaffen — wie hat Humboldt, sage ich, hiermit gerungen! Man muß es nicht bloß gelesen haben, sondern mitfühlen! Denn auch Begriffe, Dialektik und Speculation wollen gefühlt sein! Und dann dagegen Becker! —
§. 14. Entstehung der Sprache.
Hiermit haben wir Beckers Grundgedanken geprüft und nichts als leere Tautologien, Phrasen gefunden. Wir wollen aber noch, bevor wir weiter gehen, seine Ansicht über die Entstehung der Sprache prüfen. Dieser Punkt ist schon bei Gelegenheit des ersten organischen Merkmals der Sprache besprochen wor- den. Das dort Gesagte hat sich für uns in nichts aufgelöst. Da aber dieser Punkt so wichtig ist, so müssen wir sehen, ob viel- leicht an einem anderen Orte, wo derselbe ausführlicher darge- stellt wird, die Phrase der organischen Verleiblichung des Gei- stigen einen wahren Gehalt findet. Becker sagt in seinem Werke „Das Wort“ (S. 252): „Wenn man in der Sprache eine organische Verrichtung erkennt, welche in dem menschlichen Organism mit der Einheit des geistigen und leiblichen Lebens gegeben ist, und ebenso wie die anderen organischen Functionen ein ergänzendes Glied in der Kette der menschlichen Lebens- verrichtungen ist; so kann die Frage nach dem Ursprunge der Sprache nur den Sinn haben, wie der Mensch zuerst zu der Ausübung der Function gelangt sei. Die Fähigkeit zu einer organischen Function ist gegeben durch den Apparat der dieser Function angehörigen Organe, z. B. die Fähigkeit zum Athmen durch den Apparat der Respirationsorgane. Zu der wirklichen Ausübung ist aber nach einem allgemeinen Gesetze außer dem Apparate von Organen erforderlich, daß irgend ein Reiz von außen auf die Organe einwirke und sie zur Thätigkeit anrege. Dieser Reiz ist z. B. für die Function des Athmens die atmo- sphärische Luft und für die Function der Verdauung Speise und Trank. Wenden wir dieses auf die Sprachfunction an; so ist die Fähigkeit zum Sprechen gegeben durch den Apparat der
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verstanden haben! Was können sie mit ihm gemein haben! Wie
hat Humboldt mit diesen Gegensätzen in der Natur der Sprache,
daß sie ewig werdend und immer geworden, flüssig und fest,
ganz und gar individuell und durchaus allgemein, Schöpfung
des Einzelnen und doch des Geschlechts, durchaus menschlich
und wesentlich über den Menschen hinausgreifend, vom Men-
schen geschaffen und doch unerschaffen — wie hat Humboldt,
sage ich, hiermit gerungen! Man muß es nicht bloß gelesen
haben, sondern mitfühlen! Denn auch Begriffe, Dialektik und
Speculation wollen gefühlt sein! Und dann dagegen Becker! —
§. 14. Entstehung der Sprache.
Hiermit haben wir Beckers Grundgedanken geprüft und
nichts als leere Tautologien, Phrasen gefunden. Wir wollen aber
noch, bevor wir weiter gehen, seine Ansicht über die Entstehung
der Sprache prüfen. Dieser Punkt ist schon bei Gelegenheit
des ersten organischen Merkmals der Sprache besprochen wor-
den. Das dort Gesagte hat sich für uns in nichts aufgelöst. Da
aber dieser Punkt so wichtig ist, so müssen wir sehen, ob viel-
leicht an einem anderen Orte, wo derselbe ausführlicher darge-
stellt wird, die Phrase der organischen Verleiblichung des Gei-
stigen einen wahren Gehalt findet. Becker sagt in seinem
Werke „Das Wort“ (S. 252): „Wenn man in der Sprache eine
organische Verrichtung erkennt, welche in dem menschlichen
Organism mit der Einheit des geistigen und leiblichen Lebens
gegeben ist, und ebenso wie die anderen organischen Functionen
ein ergänzendes Glied in der Kette der menschlichen Lebens-
verrichtungen ist; so kann die Frage nach dem Ursprunge der
Sprache nur den Sinn haben, wie der Mensch zuerst zu der
Ausübung der Function gelangt sei. Die Fähigkeit zu einer
organischen Function ist gegeben durch den Apparat der dieser
Function angehörigen Organe, z. B. die Fähigkeit zum Athmen
durch den Apparat der Respirationsorgane. Zu der wirklichen
Ausübung ist aber nach einem allgemeinen Gesetze außer dem
Apparate von Organen erforderlich, daß irgend ein Reiz von
außen auf die Organe einwirke und sie zur Thätigkeit anrege.
Dieser Reiz ist z. B. für die Function des Athmens die atmo-
sphärische Luft und für die Function der Verdauung Speise und
Trank. Wenden wir dieses auf die Sprachfunction an; so ist
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/74>, abgerufen am 21.11.2024.
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