Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

organischen Verhältnisses, sage ich, haben eine viel größere
Selbständigkeit gegen einander, als die beiden Seiten des un-
organischen Gegensatzes, und gerade darum wirken sie thätiger
auf einander; oder vielmehr sie allein wirken auf einander,
während jene nur neben einander sind. Die chemischen
Verhältnisse zeigen schon einen Vorgang, Proceß; dagegen sinkt
im eigentlichen Mechanismus das Verhältniß zu einem gleich-
gültigen Nebeneinander hinab, und die mechanische Einheit ist
ein bloßes Kleben an einander. Nicht bloß bei der Adhäsion,
sondern auch bei der Cohäsion sind die Theile gegen einander
gleichgültig.

Wir sehen also im Reiche der Natur eine Stufenleiter rück-
sichtlich der Wesentlichkeit des Zusammenhanges und der Ein-
heit der Factoren, durch welche die Dinge gebildet werden: zu
unterst Theile, gleichgültig gegen sich und gegen das Ganze;
dann die beiden Seiten einer mechanischen Kraft, ferner die
Aequivalente oder Atome einer chemischen Verbindung,
endlich organische Glieder.

Das Wort, so hat man von jeher gesagt, und so sagt auch
Becker noch, ist die Einheit von Laut und Bedeutung. Welchen
Sinn aber hatte hier die "Einheit"? ist sie die Einheit zweier
Theile, Seiten, Atome, oder Glieder? Ohne Ausnahme, antworten
wir, galt das Wort für die mechanische Einheit zweier Theile,
des Lautes und der Bedeutung, welche äußerlich an einander
kleben. Dies ist bei allen klar, welche das Wort als das laut-
liche Zeichen für eine Vorstellung ansehen, wie Aristoteles und
Hegel und sämmtliche Grammatiker thun. Zeichen und Be-
zeichnetes bleiben immer mechanisch neben einander. Auch ist
nicht bloß das Band, welches sie für die Seele zusammenhält,
sondern selbst der Grund, welcher das Zeichen schuf, die Ideen-
association, also der eigentliche Mechanismus der Seele. Es liegt
eben im Begriffe des Zeichens, daß etwas an die Stelle eines
andern gesetzt wird, eines mit ihm wesentlich unvergleichbaren,
äußerlichen. Zwei so verschiedene Wesen können nie zur stren-
gern Einheit werden, sondern nur in unserer Vorstellung eine
enge Verbindung eingehen, so daß für unser Bewußtsein jedes
sogleich das andere hervorruft. Laut und Begriff sind durchaus
zwei incommensurable Größen; sie sind in ihrer Verbindung
neben und an einander, aber nicht so unablösbar von einander
wie Nord- und Südpolarität; sie sind nicht wie diese bloß die

organischen Verhältnisses, sage ich, haben eine viel größere
Selbständigkeit gegen einander, als die beiden Seiten des un-
organischen Gegensatzes, und gerade darum wirken sie thätiger
auf einander; oder vielmehr sie allein wirken auf einander,
während jene nur neben einander sind. Die chemischen
Verhältnisse zeigen schon einen Vorgang, Proceß; dagegen sinkt
im eigentlichen Mechanismus das Verhältniß zu einem gleich-
gültigen Nebeneinander hinab, und die mechanische Einheit ist
ein bloßes Kleben an einander. Nicht bloß bei der Adhäsion,
sondern auch bei der Cohäsion sind die Theile gegen einander
gleichgültig.

Wir sehen also im Reiche der Natur eine Stufenleiter rück-
sichtlich der Wesentlichkeit des Zusammenhanges und der Ein-
heit der Factoren, durch welche die Dinge gebildet werden: zu
unterst Theile, gleichgültig gegen sich und gegen das Ganze;
dann die beiden Seiten einer mechanischen Kraft, ferner die
Aequivalente oder Atome einer chemischen Verbindung,
endlich organische Glieder.

Das Wort, so hat man von jeher gesagt, und so sagt auch
Becker noch, ist die Einheit von Laut und Bedeutung. Welchen
Sinn aber hatte hier die „Einheit“? ist sie die Einheit zweier
Theile, Seiten, Atome, oder Glieder? Ohne Ausnahme, antworten
wir, galt das Wort für die mechanische Einheit zweier Theile,
des Lautes und der Bedeutung, welche äußerlich an einander
kleben. Dies ist bei allen klar, welche das Wort als das laut-
liche Zeichen für eine Vorstellung ansehen, wie Aristoteles und
Hegel und sämmtliche Grammatiker thun. Zeichen und Be-
zeichnetes bleiben immer mechanisch neben einander. Auch ist
nicht bloß das Band, welches sie für die Seele zusammenhält,
sondern selbst der Grund, welcher das Zeichen schuf, die Ideen-
association, also der eigentliche Mechanismus der Seele. Es liegt
eben im Begriffe des Zeichens, daß etwas an die Stelle eines
andern gesetzt wird, eines mit ihm wesentlich unvergleichbaren,
äußerlichen. Zwei so verschiedene Wesen können nie zur stren-
gern Einheit werden, sondern nur in unserer Vorstellung eine
enge Verbindung eingehen, so daß für unser Bewußtsein jedes
sogleich das andere hervorruft. Laut und Begriff sind durchaus
zwei incommensurable Größen; sie sind in ihrer Verbindung
neben und an einander, aber nicht so unablösbar von einander
wie Nord- und Südpolarität; sie sind nicht wie diese bloß die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0095" n="57"/>
organischen Verhältnisses, sage ich, haben eine viel größere<lb/>
Selbständigkeit gegen einander, als die beiden Seiten des un-<lb/>
organischen Gegensatzes, und gerade darum wirken sie thätiger<lb/>
auf einander; oder vielmehr sie allein <hi rendition="#g">wirken auf einander,</hi><lb/>
während jene nur <hi rendition="#g">neben einander sind</hi>. Die chemischen<lb/>
Verhältnisse zeigen schon einen Vorgang, Proceß; dagegen sinkt<lb/>
im eigentlichen Mechanismus das Verhältniß zu einem gleich-<lb/>
gültigen Nebeneinander hinab, und die mechanische Einheit ist<lb/>
ein bloßes Kleben an einander. Nicht bloß bei der Adhäsion,<lb/>
sondern auch bei der Cohäsion sind die Theile gegen einander<lb/>
gleichgültig.</p><lb/>
                <p>Wir sehen also im Reiche der Natur eine Stufenleiter rück-<lb/>
sichtlich der Wesentlichkeit des Zusammenhanges und der Ein-<lb/>
heit der Factoren, durch welche die Dinge gebildet werden: zu<lb/>
unterst <hi rendition="#g">Theile,</hi> gleichgültig gegen sich und gegen das Ganze;<lb/>
dann die beiden <hi rendition="#g">Seiten</hi> einer mechanischen Kraft, ferner die<lb/><hi rendition="#g">Aequivalente</hi> oder <hi rendition="#g">Atome</hi> einer chemischen Verbindung,<lb/>
endlich organische <hi rendition="#g">Glieder</hi>.</p><lb/>
                <p>Das Wort, so hat man von jeher gesagt, und so sagt auch<lb/>
Becker noch, ist die Einheit von Laut und Bedeutung. Welchen<lb/>
Sinn aber hatte hier die &#x201E;Einheit&#x201C;? ist sie die Einheit zweier<lb/>
Theile, Seiten, Atome, oder Glieder? Ohne Ausnahme, antworten<lb/>
wir, galt das Wort für die mechanische Einheit zweier Theile,<lb/>
des Lautes und der Bedeutung, welche äußerlich an einander<lb/>
kleben. Dies ist bei allen klar, welche das Wort als das laut-<lb/>
liche Zeichen für eine Vorstellung ansehen, wie Aristoteles und<lb/>
Hegel und sämmtliche Grammatiker thun. Zeichen und Be-<lb/>
zeichnetes bleiben immer mechanisch neben einander. Auch ist<lb/>
nicht bloß das Band, welches sie für die Seele zusammenhält,<lb/>
sondern selbst der Grund, welcher das Zeichen schuf, die Ideen-<lb/>
association, also der eigentliche Mechanismus der Seele. Es liegt<lb/>
eben im Begriffe des Zeichens, daß etwas an die Stelle eines<lb/>
andern gesetzt wird, eines mit ihm wesentlich unvergleichbaren,<lb/>
äußerlichen. Zwei so verschiedene Wesen können nie zur stren-<lb/>
gern Einheit werden, sondern nur in unserer Vorstellung eine<lb/>
enge Verbindung eingehen, so daß für unser Bewußtsein jedes<lb/>
sogleich das andere hervorruft. Laut und Begriff sind durchaus<lb/>
zwei incommensurable Größen; sie sind in ihrer Verbindung<lb/>
neben und an einander, aber nicht so unablösbar von einander<lb/>
wie Nord- und Südpolarität; sie sind nicht wie diese bloß die<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0095] organischen Verhältnisses, sage ich, haben eine viel größere Selbständigkeit gegen einander, als die beiden Seiten des un- organischen Gegensatzes, und gerade darum wirken sie thätiger auf einander; oder vielmehr sie allein wirken auf einander, während jene nur neben einander sind. Die chemischen Verhältnisse zeigen schon einen Vorgang, Proceß; dagegen sinkt im eigentlichen Mechanismus das Verhältniß zu einem gleich- gültigen Nebeneinander hinab, und die mechanische Einheit ist ein bloßes Kleben an einander. Nicht bloß bei der Adhäsion, sondern auch bei der Cohäsion sind die Theile gegen einander gleichgültig. Wir sehen also im Reiche der Natur eine Stufenleiter rück- sichtlich der Wesentlichkeit des Zusammenhanges und der Ein- heit der Factoren, durch welche die Dinge gebildet werden: zu unterst Theile, gleichgültig gegen sich und gegen das Ganze; dann die beiden Seiten einer mechanischen Kraft, ferner die Aequivalente oder Atome einer chemischen Verbindung, endlich organische Glieder. Das Wort, so hat man von jeher gesagt, und so sagt auch Becker noch, ist die Einheit von Laut und Bedeutung. Welchen Sinn aber hatte hier die „Einheit“? ist sie die Einheit zweier Theile, Seiten, Atome, oder Glieder? Ohne Ausnahme, antworten wir, galt das Wort für die mechanische Einheit zweier Theile, des Lautes und der Bedeutung, welche äußerlich an einander kleben. Dies ist bei allen klar, welche das Wort als das laut- liche Zeichen für eine Vorstellung ansehen, wie Aristoteles und Hegel und sämmtliche Grammatiker thun. Zeichen und Be- zeichnetes bleiben immer mechanisch neben einander. Auch ist nicht bloß das Band, welches sie für die Seele zusammenhält, sondern selbst der Grund, welcher das Zeichen schuf, die Ideen- association, also der eigentliche Mechanismus der Seele. Es liegt eben im Begriffe des Zeichens, daß etwas an die Stelle eines andern gesetzt wird, eines mit ihm wesentlich unvergleichbaren, äußerlichen. Zwei so verschiedene Wesen können nie zur stren- gern Einheit werden, sondern nur in unserer Vorstellung eine enge Verbindung eingehen, so daß für unser Bewußtsein jedes sogleich das andere hervorruft. Laut und Begriff sind durchaus zwei incommensurable Größen; sie sind in ihrer Verbindung neben und an einander, aber nicht so unablösbar von einander wie Nord- und Südpolarität; sie sind nicht wie diese bloß die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/95
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/95>, abgerufen am 18.12.2024.