Stifter, Adalbert: Brigitta. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–301. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.es geschehen ist, und erhalten statt eines dramatischen Hergangs bloß die bei derartigen Anlässen oder auch sonst im Leben eintretenden Stimmungen und Gemüthszustände, aber mit einer Beobachtungsgabe, die eben so wunderbar und unvergleichlich ist wie Stifters Naturbeobachtung, dargestellt. Man könnte diese Gebilde Seelenlandschaften nennen; sie sind in ähnlicher Weise wie seine Naturmalereien ausgeführt; und nicht ganz mit Unrecht hat ein Spötter gesagt, seine Menschen seien wandelnde Bäume. Sollte man es glauben, daß ein Dichter, der in dieser seltsamen Art zu Werke ging, dennoch eine Novelle geschaffen habe, die ihrem Begriff entspricht? Und doch ist dies sogar in hohem Grade der Fall: "Brigitta" darf eine wahre Perle unserer Sammlung genannt werden. In echt dramatischer Entwicklung werden hier zwei Menschen, deren Charaktere sich allmählich vor uns entfalten, getrennt und wieder zusammengeführt, und der Grund und Boden, auf welchem die Handlung vor sich geht, ist bei allem Reichthum der Schilderung doch künstlerisch maßvoll als sympathischer Rahmen der Begebenheiten behandelt. Aber sollte man es für möglich halten, daß dieses Kunstwerk, das vom vollsten Bewußtsein seines Schöpfers zeugt, nicht für alle seine späteren Hervorbringungen maßgebend geblieben sei? Und dennoch ist er nachher, eben so bewußt, wieder in seine alte Art und Weise zurückgefallen. Dies scheint ein Räthsel, das sich wohl nur dadurch erklärt, daß bei Stifter das künstlerische Schaffen dem denkenden Anschauen und ethischen Streben, das diesem edlen Geiste eigen war, sich unterordnete, statt aus beiden hervorzugehen. es geschehen ist, und erhalten statt eines dramatischen Hergangs bloß die bei derartigen Anlässen oder auch sonst im Leben eintretenden Stimmungen und Gemüthszustände, aber mit einer Beobachtungsgabe, die eben so wunderbar und unvergleichlich ist wie Stifters Naturbeobachtung, dargestellt. Man könnte diese Gebilde Seelenlandschaften nennen; sie sind in ähnlicher Weise wie seine Naturmalereien ausgeführt; und nicht ganz mit Unrecht hat ein Spötter gesagt, seine Menschen seien wandelnde Bäume. Sollte man es glauben, daß ein Dichter, der in dieser seltsamen Art zu Werke ging, dennoch eine Novelle geschaffen habe, die ihrem Begriff entspricht? Und doch ist dies sogar in hohem Grade der Fall: „Brigitta“ darf eine wahre Perle unserer Sammlung genannt werden. In echt dramatischer Entwicklung werden hier zwei Menschen, deren Charaktere sich allmählich vor uns entfalten, getrennt und wieder zusammengeführt, und der Grund und Boden, auf welchem die Handlung vor sich geht, ist bei allem Reichthum der Schilderung doch künstlerisch maßvoll als sympathischer Rahmen der Begebenheiten behandelt. Aber sollte man es für möglich halten, daß dieses Kunstwerk, das vom vollsten Bewußtsein seines Schöpfers zeugt, nicht für alle seine späteren Hervorbringungen maßgebend geblieben sei? Und dennoch ist er nachher, eben so bewußt, wieder in seine alte Art und Weise zurückgefallen. 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es geschehen ist, und erhalten statt eines dramatischen Hergangs bloß die bei derartigen Anlässen oder auch sonst im Leben eintretenden Stimmungen und Gemüthszustände, aber mit einer Beobachtungsgabe, die eben so wunderbar und unvergleichlich ist wie Stifters Naturbeobachtung, dargestellt. Man könnte diese Gebilde Seelenlandschaften nennen; sie sind in ähnlicher Weise wie seine Naturmalereien ausgeführt; und nicht ganz mit Unrecht hat ein Spötter gesagt, seine Menschen seien wandelnde Bäume.
Sollte man es glauben, daß ein Dichter, der in dieser seltsamen Art zu Werke ging, dennoch eine Novelle geschaffen habe, die ihrem Begriff entspricht? Und doch ist dies sogar in hohem Grade der Fall: „Brigitta“ darf eine wahre Perle unserer Sammlung genannt werden. In echt dramatischer Entwicklung werden hier zwei Menschen, deren Charaktere sich allmählich vor uns entfalten, getrennt und wieder zusammengeführt, und der Grund und Boden, auf welchem die Handlung vor sich geht, ist bei allem Reichthum der Schilderung doch künstlerisch maßvoll als sympathischer Rahmen der Begebenheiten behandelt.
Aber sollte man es für möglich halten, daß dieses Kunstwerk, das vom vollsten Bewußtsein seines Schöpfers zeugt, nicht für alle seine späteren Hervorbringungen maßgebend geblieben sei? Und dennoch ist er nachher, eben so bewußt, wieder in seine alte Art und Weise zurückgefallen. Dies scheint ein Räthsel, das sich wohl nur dadurch erklärt, daß bei Stifter das künstlerische Schaffen dem denkenden Anschauen und ethischen Streben, das diesem edlen Geiste eigen war, sich unterordnete, statt aus beiden hervorzugehen.
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