Stifter, Adalbert: Brigitta. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–301. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Gebiete vollkommen richtige Grundsatz, daß bei Gott nichts groß oder klein sei, sondern alles gleichen Werth habe, Grashalm oder Gewitter, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandle. Er versetzte sich also dichtend so zu sagen in das Auge Gottes, das aus die winzigste Kreatur wie in das All der Welten mit gleicher Liebe schaut, und verzichtete, er, der Künstler, freiwillig, wissentlich auf das, was doch die Kunst nicht entbehren kann, auf die Perspective. Dazu kam in den ersten Erzählungen, daß das Naturleben ganz im Vordergründe stand. Es fehlte zwar nicht an Menschen darin, aber sie waren nur um des Naturgemäldes willen da, und man erklärte sie deshalb mit Recht für bloße Staffage in der Landschaft. In den folgenden Erzählungen ging der Dichter mehr auf das Menschenleben ein, aber auch hier wieder trat das, was man sonst als Beiwerk mit ein paar Strichen abzufertigen pflegt, die äußerliche Erscheinung und Umgebung, eben so peinlich wie meisterhaft im Detail ausgemalt in den Vordergrund. In dieser Detailmalerei überläßt er sich mitunter einer fast betäubenden Redseligkeit, die er nach der Versicherung seines Biographen auch im Leben besessen haben soll, und einer ganz sonderbaren Lehrhaftigkeit, die uns auch mit dem Bekanntesten nicht verschont, so daß, wer nicht von seiner akademischen Bildung weiß, ihn für einen Autodidakten zu halten geneigt sein sollte. Indessen beschränkt er sich keineswegs auf das Aeußere: er geht, und zwar sehr tief, in das Innere des Menschen ein. Aber dies geschieht nicht, um die Erzählung entwicklungsmäßig vorwärts zu bringen: vielmehr kommen ohne Verwicklung, ohne Entwicklung die Menschen zusammen und wieder auseinander; wir sehen nicht wie es zugeht, wir erfahren nur, daß Gebiete vollkommen richtige Grundsatz, daß bei Gott nichts groß oder klein sei, sondern alles gleichen Werth habe, Grashalm oder Gewitter, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandle. Er versetzte sich also dichtend so zu sagen in das Auge Gottes, das aus die winzigste Kreatur wie in das All der Welten mit gleicher Liebe schaut, und verzichtete, er, der Künstler, freiwillig, wissentlich auf das, was doch die Kunst nicht entbehren kann, auf die Perspective. Dazu kam in den ersten Erzählungen, daß das Naturleben ganz im Vordergründe stand. Es fehlte zwar nicht an Menschen darin, aber sie waren nur um des Naturgemäldes willen da, und man erklärte sie deshalb mit Recht für bloße Staffage in der Landschaft. In den folgenden Erzählungen ging der Dichter mehr auf das Menschenleben ein, aber auch hier wieder trat das, was man sonst als Beiwerk mit ein paar Strichen abzufertigen pflegt, die äußerliche Erscheinung und Umgebung, eben so peinlich wie meisterhaft im Detail ausgemalt in den Vordergrund. In dieser Detailmalerei überläßt er sich mitunter einer fast betäubenden Redseligkeit, die er nach der Versicherung seines Biographen auch im Leben besessen haben soll, und einer ganz sonderbaren Lehrhaftigkeit, die uns auch mit dem Bekanntesten nicht verschont, so daß, wer nicht von seiner akademischen Bildung weiß, ihn für einen Autodidakten zu halten geneigt sein sollte. Indessen beschränkt er sich keineswegs auf das Aeußere: er geht, und zwar sehr tief, in das Innere des Menschen ein. 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Es fehlte zwar nicht an Menschen darin, aber sie waren nur um des Naturgemäldes willen da, und man erklärte sie deshalb mit Recht für bloße Staffage in der Landschaft. In den folgenden Erzählungen ging der Dichter mehr auf das Menschenleben ein, aber auch hier wieder trat das, was man sonst als Beiwerk mit ein paar Strichen abzufertigen pflegt, die äußerliche Erscheinung und Umgebung, eben so peinlich wie meisterhaft im Detail ausgemalt in den Vordergrund. In dieser Detailmalerei überläßt er sich mitunter einer fast betäubenden Redseligkeit, die er nach der Versicherung seines Biographen auch im Leben besessen haben soll, und einer ganz sonderbaren Lehrhaftigkeit, die uns auch mit dem Bekanntesten nicht verschont, so daß, wer nicht von seiner akademischen Bildung weiß, ihn für einen Autodidakten zu halten geneigt sein sollte. Indessen beschränkt er sich keineswegs auf das Aeußere: er geht, und zwar sehr tief, in das Innere des Menschen ein. Aber dies geschieht nicht, um die Erzählung entwicklungsmäßig vorwärts zu bringen: vielmehr kommen ohne Verwicklung, ohne Entwicklung die Menschen zusammen und wieder auseinander; wir sehen nicht wie es zugeht, wir erfahren nur, daß<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0007]
Gebiete vollkommen richtige Grundsatz, daß bei Gott nichts groß oder klein sei, sondern alles gleichen Werth habe, Grashalm oder Gewitter, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandle. Er versetzte sich also dichtend so zu sagen in das Auge Gottes, das aus die winzigste Kreatur wie in das All der Welten mit gleicher Liebe schaut, und verzichtete, er, der Künstler, freiwillig, wissentlich auf das, was doch die Kunst nicht entbehren kann, auf die Perspective.
Dazu kam in den ersten Erzählungen, daß das Naturleben ganz im Vordergründe stand. Es fehlte zwar nicht an Menschen darin, aber sie waren nur um des Naturgemäldes willen da, und man erklärte sie deshalb mit Recht für bloße Staffage in der Landschaft. In den folgenden Erzählungen ging der Dichter mehr auf das Menschenleben ein, aber auch hier wieder trat das, was man sonst als Beiwerk mit ein paar Strichen abzufertigen pflegt, die äußerliche Erscheinung und Umgebung, eben so peinlich wie meisterhaft im Detail ausgemalt in den Vordergrund. In dieser Detailmalerei überläßt er sich mitunter einer fast betäubenden Redseligkeit, die er nach der Versicherung seines Biographen auch im Leben besessen haben soll, und einer ganz sonderbaren Lehrhaftigkeit, die uns auch mit dem Bekanntesten nicht verschont, so daß, wer nicht von seiner akademischen Bildung weiß, ihn für einen Autodidakten zu halten geneigt sein sollte. Indessen beschränkt er sich keineswegs auf das Aeußere: er geht, und zwar sehr tief, in das Innere des Menschen ein. Aber dies geschieht nicht, um die Erzählung entwicklungsmäßig vorwärts zu bringen: vielmehr kommen ohne Verwicklung, ohne Entwicklung die Menschen zusammen und wieder auseinander; wir sehen nicht wie es zugeht, wir erfahren nur, daß
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