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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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Ich habe die Ebene und ihre Sprache, die sie damals
zu mir sprach, schon geliebt, ehe ich meine jezige Auf¬
gabe betrieb, und ehe ich die Gebirge kannte."

"Ich glaube," entgegnete mein Begleiter, "daß in
der gegenwärtigen Zeit der Standpunkt der Wissen¬
schaft, von welcher wir sprechen, der des Sammelns
ist. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas
bauen, das wir noch nicht kennen. Das Sammeln
geht der Wissenschaft immer voraus; das ist nicht
merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der
Wissenschaft sein; aber das ist merkwürdig, daß der
Drang des Sammelns in die Geister kömmt, wenn
eine Wissenschaft erscheinen soll, wenn sie auch noch
nicht wissen, was diese Wissenschaft enthalten wird.
Es geht gleichsam der Reiz der Ahnung in die Her¬
zen, wozu etwas da sein könne, und wozu es Gott be¬
stellt haben möge. Aber selbst ohne diesen Reiz hat
das Sammeln etwas sehr Einnehmendes. Ich habe
meine Marmore alle selber in den Gebirgen gesam¬
melt, und habe ihren Bruch aus den Felsen ihr Absä¬
gen ihr Schleifen und ihre Einfügungen geleitet. Die
Arbeit hat mir manche Freude gebracht, und ich
glaube, daß mir nur darum diese Steine so lieb sind,
weil ich sie selber gesucht habe."

Ich habe die Ebene und ihre Sprache, die ſie damals
zu mir ſprach, ſchon geliebt, ehe ich meine jezige Auf¬
gabe betrieb, und ehe ich die Gebirge kannte.“

„Ich glaube,“ entgegnete mein Begleiter, „daß in
der gegenwärtigen Zeit der Standpunkt der Wiſſen¬
ſchaft, von welcher wir ſprechen, der des Sammelns
iſt. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas
bauen, das wir noch nicht kennen. Das Sammeln
geht der Wiſſenſchaft immer voraus; das iſt nicht
merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der
Wiſſenſchaft ſein; aber das iſt merkwürdig, daß der
Drang des Sammelns in die Geiſter kömmt, wenn
eine Wiſſenſchaft erſcheinen ſoll, wenn ſie auch noch
nicht wiſſen, was dieſe Wiſſenſchaft enthalten wird.
Es geht gleichſam der Reiz der Ahnung in die Her¬
zen, wozu etwas da ſein könne, und wozu es Gott be¬
ſtellt haben möge. Aber ſelbſt ohne dieſen Reiz hat
das Sammeln etwas ſehr Einnehmendes. Ich habe
meine Marmore alle ſelber in den Gebirgen geſam¬
melt, und habe ihren Bruch aus den Felſen ihr Abſä¬
gen ihr Schleifen und ihre Einfügungen geleitet. Die
Arbeit hat mir manche Freude gebracht, und ich
glaube, daß mir nur darum dieſe Steine ſo lieb ſind,
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[189/0203] Ich habe die Ebene und ihre Sprache, die ſie damals zu mir ſprach, ſchon geliebt, ehe ich meine jezige Auf¬ gabe betrieb, und ehe ich die Gebirge kannte.“ „Ich glaube,“ entgegnete mein Begleiter, „daß in der gegenwärtigen Zeit der Standpunkt der Wiſſen¬ ſchaft, von welcher wir ſprechen, der des Sammelns iſt. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen, das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wiſſenſchaft immer voraus; das iſt nicht merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der Wiſſenſchaft ſein; aber das iſt merkwürdig, daß der Drang des Sammelns in die Geiſter kömmt, wenn eine Wiſſenſchaft erſcheinen ſoll, wenn ſie auch noch nicht wiſſen, was dieſe Wiſſenſchaft enthalten wird. Es geht gleichſam der Reiz der Ahnung in die Her¬ zen, wozu etwas da ſein könne, und wozu es Gott be¬ ſtellt haben möge. Aber ſelbſt ohne dieſen Reiz hat das Sammeln etwas ſehr Einnehmendes. Ich habe meine Marmore alle ſelber in den Gebirgen geſam¬ melt, und habe ihren Bruch aus den Felſen ihr Abſä¬ gen ihr Schleifen und ihre Einfügungen geleitet. Die Arbeit hat mir manche Freude gebracht, und ich glaube, daß mir nur darum dieſe Steine ſo lieb ſind, weil ich ſie ſelber geſucht habe.“

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/203>, abgerufen am 12.05.2024.