zu der Biegung gelangt war, kam mir ein Wagen entgegen, welcher mit eingelegtem Radschuhe langsam die Straße herabfuhr. Er mochte darum langsamer als gewöhnlich fahren, weil sich diejenigen, welche in ihm saßen, Vorsicht zum Geseze gemacht haben konn¬ ten. Es saßen nehmlich in dem offenen und des schö¬ nen Wetters willen ganz zurückgelegten Wagen zwei Frauengestalten, eine ältere und eine jüngere. Beide hatten Schleier, welche von den Hüten über die Schultern niedergingen. Die ältere hatte den Schleier über das Angesicht gezogen, welches aber doch, da der Schleier weiß war, ein wenig gesehen werden konnte. Die jüngere hatte den Schleier zu beiden Seiten des Angesichts zurückgethan, und zeigte dieses Angesicht der Luft. Ich sah sie beide an, und zog endlich zu einer höflichen Begrüßung meinen Hut. Sie dankten freundlich, und der Wagen fuhr vorüber. Ich dachte mir, da der Wagen immer tiefer über den Berg hin¬ abging, ob denn nicht eigentlich das menschliche An¬ gesicht der schönste Gegenstand zum Zeichnen wäre.
Ich sah dem Wagen noch nach, bis er durch die Biegung des Weges unsichtbar geworden war. Dann ging ich an dem Waldrande vorwärts und auf¬ wärts.
Stifter, Nachsommer. I. 18
zu der Biegung gelangt war, kam mir ein Wagen entgegen, welcher mit eingelegtem Radſchuhe langſam die Straße herabfuhr. Er mochte darum langſamer als gewöhnlich fahren, weil ſich diejenigen, welche in ihm ſaßen, Vorſicht zum Geſeze gemacht haben konn¬ ten. Es ſaßen nehmlich in dem offenen und des ſchö¬ nen Wetters willen ganz zurückgelegten Wagen zwei Frauengeſtalten, eine ältere und eine jüngere. Beide hatten Schleier, welche von den Hüten über die Schultern niedergingen. Die ältere hatte den Schleier über das Angeſicht gezogen, welches aber doch, da der Schleier weiß war, ein wenig geſehen werden konnte. Die jüngere hatte den Schleier zu beiden Seiten des Angeſichts zurückgethan, und zeigte dieſes Angeſicht der Luft. Ich ſah ſie beide an, und zog endlich zu einer höflichen Begrüßung meinen Hut. Sie dankten freundlich, und der Wagen fuhr vorüber. Ich dachte mir, da der Wagen immer tiefer über den Berg hin¬ abging, ob denn nicht eigentlich das menſchliche An¬ geſicht der ſchönſte Gegenſtand zum Zeichnen wäre.
Ich ſah dem Wagen noch nach, bis er durch die Biegung des Weges unſichtbar geworden war. Dann ging ich an dem Waldrande vorwärts und auf¬ wärts.
Stifter, Nachſommer. I. 18
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zu der Biegung gelangt war, kam mir ein Wagen
entgegen, welcher mit eingelegtem Radſchuhe langſam
die Straße herabfuhr. Er mochte darum langſamer
als gewöhnlich fahren, weil ſich diejenigen, welche in
ihm ſaßen, Vorſicht zum Geſeze gemacht haben konn¬
ten. Es ſaßen nehmlich in dem offenen und des ſchö¬
nen Wetters willen ganz zurückgelegten Wagen zwei
Frauengeſtalten, eine ältere und eine jüngere. Beide
hatten Schleier, welche von den Hüten über die
Schultern niedergingen. Die ältere hatte den Schleier
über das Angeſicht gezogen, welches aber doch, da der
Schleier weiß war, ein wenig geſehen werden konnte.
Die jüngere hatte den Schleier zu beiden Seiten des
Angeſichts zurückgethan, und zeigte dieſes Angeſicht
der Luft. Ich ſah ſie beide an, und zog endlich zu
einer höflichen Begrüßung meinen Hut. Sie dankten
freundlich, und der Wagen fuhr vorüber. Ich dachte
mir, da der Wagen immer tiefer über den Berg hin¬
abging, ob denn nicht eigentlich das menſchliche An¬
geſicht der ſchönſte Gegenſtand zum Zeichnen wäre.
Ich ſah dem Wagen noch nach, bis er durch
die Biegung des Weges unſichtbar geworden war.
Dann ging ich an dem Waldrande vorwärts und auf¬
wärts.
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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/287>, abgerufen am 21.11.2024.
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