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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

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Wer hat noch erst nur einen Grashalm so treu ge¬
macht, wie sie auf der Wiese zu Millionen wachsen,
wer hat einen Stein eine Wolke ein Wasser ein Ge¬
birge die gelenkige Schönheit der Thiere die Pracht
der menschlichen Glieder nachgebildet, daß sie nicht
hinter den Urbildern wie schattenhafte Wesen stehen,
und wer hat erst die Unendlichkeit des Geistes darzu¬
stellen gewußt, die schon in der Endlichkeit einzelner
Dinge liegt, in einem Sturme, im Gewitter, in der
Fruchtbarkeit der Erde mit ihren Winden Wolkenzü¬
gen, in dem Erdballe selber, und dann in der Unend¬
lichkeit des Alls? Oder wer hat nur diesen Geist zu
fassen gewußt? Einige Völker sind sinniger und inni¬
ger geworden, andere haben ins Größere und Weitere
gearbeitet, wieder andere haben den Umriß mit keu¬
scher und reiner Seele aufgenommen, und andere sind
schlicht und einfältig gewesen. Nicht ein Einzelnes
von diesen ist die Kunst, alles zusammen ist die Kunst,
was da gewesen ist, und was noch kommen wird.
Wir gleichen den Kindern auch darin, daß, wenn sie
ein Haus eine Kirche einen Berg aus Erde nur ent¬
fernt ähnlich ausgeführt haben, sie eine größere Freude
darüber empfinden, als wenn sie das um Unvergleich¬
liches schönere Haus die schönere Kirche oder den

Wer hat noch erſt nur einen Grashalm ſo treu ge¬
macht, wie ſie auf der Wieſe zu Millionen wachſen,
wer hat einen Stein eine Wolke ein Waſſer ein Ge¬
birge die gelenkige Schönheit der Thiere die Pracht
der menſchlichen Glieder nachgebildet, daß ſie nicht
hinter den Urbildern wie ſchattenhafte Weſen ſtehen,
und wer hat erſt die Unendlichkeit des Geiſtes darzu¬
ſtellen gewußt, die ſchon in der Endlichkeit einzelner
Dinge liegt, in einem Sturme, im Gewitter, in der
Fruchtbarkeit der Erde mit ihren Winden Wolkenzü¬
gen, in dem Erdballe ſelber, und dann in der Unend¬
lichkeit des Alls? Oder wer hat nur dieſen Geiſt zu
faſſen gewußt? Einige Völker ſind ſinniger und inni¬
ger geworden, andere haben ins Größere und Weitere
gearbeitet, wieder andere haben den Umriß mit keu¬
ſcher und reiner Seele aufgenommen, und andere ſind
ſchlicht und einfältig geweſen. Nicht ein Einzelnes
von dieſen iſt die Kunſt, alles zuſammen iſt die Kunſt,
was da geweſen iſt, und was noch kommen wird.
Wir gleichen den Kindern auch darin, daß, wenn ſie
ein Haus eine Kirche einen Berg aus Erde nur ent¬
fernt ähnlich ausgeführt haben, ſie eine größere Freude
darüber empfinden, als wenn ſie das um Unvergleich¬
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[219/0233] Wer hat noch erſt nur einen Grashalm ſo treu ge¬ macht, wie ſie auf der Wieſe zu Millionen wachſen, wer hat einen Stein eine Wolke ein Waſſer ein Ge¬ birge die gelenkige Schönheit der Thiere die Pracht der menſchlichen Glieder nachgebildet, daß ſie nicht hinter den Urbildern wie ſchattenhafte Weſen ſtehen, und wer hat erſt die Unendlichkeit des Geiſtes darzu¬ ſtellen gewußt, die ſchon in der Endlichkeit einzelner Dinge liegt, in einem Sturme, im Gewitter, in der Fruchtbarkeit der Erde mit ihren Winden Wolkenzü¬ gen, in dem Erdballe ſelber, und dann in der Unend¬ lichkeit des Alls? Oder wer hat nur dieſen Geiſt zu faſſen gewußt? Einige Völker ſind ſinniger und inni¬ ger geworden, andere haben ins Größere und Weitere gearbeitet, wieder andere haben den Umriß mit keu¬ ſcher und reiner Seele aufgenommen, und andere ſind ſchlicht und einfältig geweſen. Nicht ein Einzelnes von dieſen iſt die Kunſt, alles zuſammen iſt die Kunſt, was da geweſen iſt, und was noch kommen wird. Wir gleichen den Kindern auch darin, daß, wenn ſie ein Haus eine Kirche einen Berg aus Erde nur ent¬ fernt ähnlich ausgeführt haben, ſie eine größere Freude darüber empfinden, als wenn ſie das um Unvergleich¬ liches ſchönere Haus die ſchönere Kirche oder den

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/233>, abgerufen am 17.05.2024.