Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

Augen noch nicht so schwach waren, das viele Lesen,
das sie sich hatte auflegen müssen, bei ihrem Alter
doch hätte beschwerlich werden können, hatte sie eine
Vorleserin, welche einen Theil und zwar den größten
des Lesestoffes auf sich nahm, und ihr vortrug. Diese
Vorleserin war aber keine bloße Vorleserin, sondern
vielmehr eine Gesellschafterin der Fürstin, die mit ihr
über das Gelesene sprach, und die eine solche Bildung
besaß, daß sie dem Geiste der alten Frau Nahrung zu
geben vermochte, so wie sie von diesem Geiste auch
Nahrung empfing. Nach dem Urtheile von Männern,
die über solche Dinge sprechen können, war die Gesell¬
schafterin von außerordentlicher Begabung, sie war
im Stande jedes Große in sich aufzunehmen, und
wieder zu geben, so wie ihre eigenen Hervorbringun¬
gen, zu denen sie sich zuweilen verleiten ließ, zu den
Beachtenswerthesten der Zeit gehörten. Sie blieb
immer um die Fürstin, auch wenn diese im Sommer
auf ein Landgut, das in einem entfernten Theile des
Reiches lag, und ihr Lieblingsaufenthalt war, ging,
oder wenn sie sich auf Reisen befand, oder eine Zeit
an einer schönen Stelle unsers Gebirges weilte, wie
sie gerne that.

An manchen Abenden zu der Zeit, da sie in der

Augen noch nicht ſo ſchwach waren, das viele Leſen,
das ſie ſich hatte auflegen müſſen, bei ihrem Alter
doch hätte beſchwerlich werden können, hatte ſie eine
Vorleſerin, welche einen Theil und zwar den größten
des Leſeſtoffes auf ſich nahm, und ihr vortrug. Dieſe
Vorleſerin war aber keine bloße Vorleſerin, ſondern
vielmehr eine Geſellſchafterin der Fürſtin, die mit ihr
über das Geleſene ſprach, und die eine ſolche Bildung
beſaß, daß ſie dem Geiſte der alten Frau Nahrung zu
geben vermochte, ſo wie ſie von dieſem Geiſte auch
Nahrung empfing. Nach dem Urtheile von Männern,
die über ſolche Dinge ſprechen können, war die Geſell¬
ſchafterin von außerordentlicher Begabung, ſie war
im Stande jedes Große in ſich aufzunehmen, und
wieder zu geben, ſo wie ihre eigenen Hervorbringun¬
gen, zu denen ſie ſich zuweilen verleiten ließ, zu den
Beachtenswertheſten der Zeit gehörten. Sie blieb
immer um die Fürſtin, auch wenn dieſe im Sommer
auf ein Landgut, das in einem entfernten Theile des
Reiches lag, und ihr Lieblingsaufenthalt war, ging,
oder wenn ſie ſich auf Reiſen befand, oder eine Zeit
an einer ſchönen Stelle unſers Gebirges weilte, wie
ſie gerne that.

An manchen Abenden zu der Zeit, da ſie in der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0092" n="78"/>
Augen noch nicht &#x017F;o &#x017F;chwach waren, das viele Le&#x017F;en,<lb/>
das &#x017F;ie &#x017F;ich hatte auflegen mü&#x017F;&#x017F;en, bei ihrem Alter<lb/>
doch hätte be&#x017F;chwerlich werden können, hatte &#x017F;ie eine<lb/>
Vorle&#x017F;erin, welche einen Theil und zwar den größten<lb/>
des Le&#x017F;e&#x017F;toffes auf &#x017F;ich nahm, und ihr vortrug. Die&#x017F;e<lb/>
Vorle&#x017F;erin war aber keine bloße Vorle&#x017F;erin, &#x017F;ondern<lb/>
vielmehr eine Ge&#x017F;ell&#x017F;chafterin der Für&#x017F;tin, die mit ihr<lb/>
über das Gele&#x017F;ene &#x017F;prach, und die eine &#x017F;olche Bildung<lb/>
be&#x017F;aß, daß &#x017F;ie dem Gei&#x017F;te der alten Frau Nahrung zu<lb/>
geben vermochte, &#x017F;o wie &#x017F;ie von die&#x017F;em Gei&#x017F;te auch<lb/>
Nahrung empfing. Nach dem Urtheile von Männern,<lb/>
die über &#x017F;olche Dinge &#x017F;prechen können, war die Ge&#x017F;ell¬<lb/>
&#x017F;chafterin von außerordentlicher Begabung, &#x017F;ie war<lb/>
im Stande jedes Große in &#x017F;ich aufzunehmen, und<lb/>
wieder zu geben, &#x017F;o wie ihre eigenen Hervorbringun¬<lb/>
gen, zu denen &#x017F;ie &#x017F;ich zuweilen verleiten ließ, zu den<lb/>
Beachtenswerthe&#x017F;ten der Zeit gehörten. Sie blieb<lb/>
immer um die Für&#x017F;tin, auch wenn die&#x017F;e im Sommer<lb/>
auf ein Landgut, das in einem entfernten Theile des<lb/>
Reiches lag, und ihr Lieblingsaufenthalt war, ging,<lb/>
oder wenn &#x017F;ie &#x017F;ich auf Rei&#x017F;en befand, oder eine Zeit<lb/>
an einer &#x017F;chönen Stelle un&#x017F;ers Gebirges weilte, wie<lb/>
&#x017F;ie gerne that.</p><lb/>
        <p>An manchen Abenden zu der Zeit, da &#x017F;ie in der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0092] Augen noch nicht ſo ſchwach waren, das viele Leſen, das ſie ſich hatte auflegen müſſen, bei ihrem Alter doch hätte beſchwerlich werden können, hatte ſie eine Vorleſerin, welche einen Theil und zwar den größten des Leſeſtoffes auf ſich nahm, und ihr vortrug. Dieſe Vorleſerin war aber keine bloße Vorleſerin, ſondern vielmehr eine Geſellſchafterin der Fürſtin, die mit ihr über das Geleſene ſprach, und die eine ſolche Bildung beſaß, daß ſie dem Geiſte der alten Frau Nahrung zu geben vermochte, ſo wie ſie von dieſem Geiſte auch Nahrung empfing. Nach dem Urtheile von Männern, die über ſolche Dinge ſprechen können, war die Geſell¬ ſchafterin von außerordentlicher Begabung, ſie war im Stande jedes Große in ſich aufzunehmen, und wieder zu geben, ſo wie ihre eigenen Hervorbringun¬ gen, zu denen ſie ſich zuweilen verleiten ließ, zu den Beachtenswertheſten der Zeit gehörten. Sie blieb immer um die Fürſtin, auch wenn dieſe im Sommer auf ein Landgut, das in einem entfernten Theile des Reiches lag, und ihr Lieblingsaufenthalt war, ging, oder wenn ſie ſich auf Reiſen befand, oder eine Zeit an einer ſchönen Stelle unſers Gebirges weilte, wie ſie gerne that. An manchen Abenden zu der Zeit, da ſie in der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/92
Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/92>, abgerufen am 21.11.2024.