gen, ehe wir zu dem Mittagessen gerufen wurden, zu der Mutter. Bei der Mutter waren wir stiller und wortarmer als gewöhnlich. Mathilde suchte sich ein Papierstreifchen, und legte es wieder an jener Stelle in das Buch, wo ich ihr das Merkzeichen herausge¬ nommen hatte. Dann sezte sie sich zu dem Claviere, und rief einzelne Töne aus den Saiten. Alfred er¬ zählte, was wir in dem Garten gethan hatten, und berichtete der Mutter, daß wir verdorrte und un¬ brauchbare Blätter von den Rosenzweigen, die an den Latten des Gartenhauses angebunden sind, herabge¬ nommen hätten. Hierauf wurden wir zu dem Mit¬ tagessen gerufen. Nachmittag war kein Spaziergang. Die Eltern gingen nicht, und ich schlug Alfred und Mathilden keinen vor. Ich nahm ein Buch eines Lieblingsdichters, las sehr lange, und feurige Thränen wie heiße Tropfen kamen öfter in meine Augen. Spä¬ ter saß ich auf der Bank in dem Fliedergebüsche, und schaute zuweilen durch die Zweige auf die Wohnung Mathildens. Dort stand manches Mal das Mäd¬ chen, das so schön wie ein Engel war, an dem Fenster. Gegen den Abend spielte Mathilde in dem Zimmer der Mutter auf dem Claviere sehr ernst sehr schön und sehr ergreifend. Dann nahm sie noch die Zither, und
gen, ehe wir zu dem Mittageſſen gerufen wurden, zu der Mutter. Bei der Mutter waren wir ſtiller und wortarmer als gewöhnlich. Mathilde ſuchte ſich ein Papierſtreifchen, und legte es wieder an jener Stelle in das Buch, wo ich ihr das Merkzeichen herausge¬ nommen hatte. Dann ſezte ſie ſich zu dem Claviere, und rief einzelne Töne aus den Saiten. Alfred er¬ zählte, was wir in dem Garten gethan hatten, und berichtete der Mutter, daß wir verdorrte und un¬ brauchbare Blätter von den Roſenzweigen, die an den Latten des Gartenhauſes angebunden ſind, herabge¬ nommen hätten. Hierauf wurden wir zu dem Mit¬ tageſſen gerufen. Nachmittag war kein Spaziergang. Die Eltern gingen nicht, und ich ſchlug Alfred und Mathilden keinen vor. Ich nahm ein Buch eines Lieblingsdichters, las ſehr lange, und feurige Thränen wie heiße Tropfen kamen öfter in meine Augen. Spä¬ ter ſaß ich auf der Bank in dem Fliedergebüſche, und ſchaute zuweilen durch die Zweige auf die Wohnung Mathildens. Dort ſtand manches Mal das Mäd¬ chen, das ſo ſchön wie ein Engel war, an dem Fenſter. Gegen den Abend ſpielte Mathilde in dem Zimmer der Mutter auf dem Claviere ſehr ernſt ſehr ſchön und ſehr ergreifend. Dann nahm ſie noch die Zither, und
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0310"n="296"/>
gen, ehe wir zu dem Mittageſſen gerufen wurden, zu<lb/>
der Mutter. Bei der Mutter waren wir ſtiller und<lb/>
wortarmer als gewöhnlich. Mathilde ſuchte ſich ein<lb/>
Papierſtreifchen, und legte es wieder an jener Stelle<lb/>
in das Buch, wo ich ihr das Merkzeichen herausge¬<lb/>
nommen hatte. Dann ſezte ſie ſich zu dem Claviere,<lb/>
und rief einzelne Töne aus den Saiten. Alfred er¬<lb/>
zählte, was wir in dem Garten gethan hatten, und<lb/>
berichtete der Mutter, daß wir verdorrte und un¬<lb/>
brauchbare Blätter von den Roſenzweigen, die an den<lb/>
Latten des Gartenhauſes angebunden ſind, herabge¬<lb/>
nommen hätten. Hierauf wurden wir zu dem Mit¬<lb/>
tageſſen gerufen. Nachmittag war kein Spaziergang.<lb/>
Die Eltern gingen nicht, und ich ſchlug Alfred und<lb/>
Mathilden keinen vor. Ich nahm ein Buch eines<lb/>
Lieblingsdichters, las ſehr lange, und feurige Thränen<lb/>
wie heiße Tropfen kamen öfter in meine Augen. Spä¬<lb/>
ter ſaß ich auf der Bank in dem Fliedergebüſche, und<lb/>ſchaute zuweilen durch die Zweige auf die Wohnung<lb/>
Mathildens. Dort ſtand manches Mal das Mäd¬<lb/>
chen, das ſo ſchön wie ein Engel war, an dem Fenſter.<lb/>
Gegen den Abend ſpielte Mathilde in dem Zimmer<lb/>
der Mutter auf dem Claviere ſehr ernſt ſehr ſchön und<lb/>ſehr ergreifend. Dann nahm ſie noch die Zither, und<lb/></p></div></body></text></TEI>
[296/0310]
gen, ehe wir zu dem Mittageſſen gerufen wurden, zu
der Mutter. Bei der Mutter waren wir ſtiller und
wortarmer als gewöhnlich. Mathilde ſuchte ſich ein
Papierſtreifchen, und legte es wieder an jener Stelle
in das Buch, wo ich ihr das Merkzeichen herausge¬
nommen hatte. Dann ſezte ſie ſich zu dem Claviere,
und rief einzelne Töne aus den Saiten. Alfred er¬
zählte, was wir in dem Garten gethan hatten, und
berichtete der Mutter, daß wir verdorrte und un¬
brauchbare Blätter von den Roſenzweigen, die an den
Latten des Gartenhauſes angebunden ſind, herabge¬
nommen hätten. Hierauf wurden wir zu dem Mit¬
tageſſen gerufen. Nachmittag war kein Spaziergang.
Die Eltern gingen nicht, und ich ſchlug Alfred und
Mathilden keinen vor. Ich nahm ein Buch eines
Lieblingsdichters, las ſehr lange, und feurige Thränen
wie heiße Tropfen kamen öfter in meine Augen. Spä¬
ter ſaß ich auf der Bank in dem Fliedergebüſche, und
ſchaute zuweilen durch die Zweige auf die Wohnung
Mathildens. Dort ſtand manches Mal das Mäd¬
chen, das ſo ſchön wie ein Engel war, an dem Fenſter.
Gegen den Abend ſpielte Mathilde in dem Zimmer
der Mutter auf dem Claviere ſehr ernſt ſehr ſchön und
ſehr ergreifend. Dann nahm ſie noch die Zither, und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/310>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.