an dem Halse, und weinten. Meine ehrwürdige Mut¬ ter war von Mathilden umfaßt und an das Herz ge¬ drückt. Dann wurde der Vater von ihr anmuthsvoll und herzlich gegrüßt, sie reichte ihm beide Hände, und sah ihn mit ihren Augen, die noch immer so schön waren, auf das Innigste an. Natalie hatte indessen die Hand meiner Mutter gefaßt, und sie geküßt. Diese gab den Kuß auf die Stirne des schö¬ nen Mädchens zurück. Der Vater wollte wahrschein¬ lich etwas Heiteres oder gar Scherzhaftes zu Natalien sagen; aber als er sie näher anblickte, wurde er sehr ernst und beinahe scheu, er grüßte sie anständig und sehr fein. Wahrscheinlich hatte ihn ihre Schönheit überrascht, oder er erinnerte sich, wie es auch mir ergangen war, an die Pracht seiner geschnittenen Steine. Klotilde wurde von Mathilden auch an das Herz gedrückt. Auf mich dachte beinahe niemand. Ob dieser Empfang der strengen Umgangssitte oder irgend einer Rangordnung gemäß war, darnach fragte niemand. Wir gingen unter einander gemischt die Treppe hinan, und wurden in Mathildens Gesell¬ schaftszimmer geführt. Dort lieh man den Grüßen erst lebhaftere Worte und einen geregelten Ausdruck.
"So lange haben wir uns gekannt, und erst jezt
an dem Halſe, und weinten. Meine ehrwürdige Mut¬ ter war von Mathilden umfaßt und an das Herz ge¬ drückt. Dann wurde der Vater von ihr anmuthsvoll und herzlich gegrüßt, ſie reichte ihm beide Hände, und ſah ihn mit ihren Augen, die noch immer ſo ſchön waren, auf das Innigſte an. Natalie hatte indeſſen die Hand meiner Mutter gefaßt, und ſie geküßt. Dieſe gab den Kuß auf die Stirne des ſchö¬ nen Mädchens zurück. Der Vater wollte wahrſchein¬ lich etwas Heiteres oder gar Scherzhaftes zu Natalien ſagen; aber als er ſie näher anblickte, wurde er ſehr ernſt und beinahe ſcheu, er grüßte ſie anſtändig und ſehr fein. Wahrſcheinlich hatte ihn ihre Schönheit überraſcht, oder er erinnerte ſich, wie es auch mir ergangen war, an die Pracht ſeiner geſchnittenen Steine. Klotilde wurde von Mathilden auch an das Herz gedrückt. Auf mich dachte beinahe niemand. Ob dieſer Empfang der ſtrengen Umgangsſitte oder irgend einer Rangordnung gemäß war, darnach fragte niemand. Wir gingen unter einander gemiſcht die Treppe hinan, und wurden in Mathildens Geſell¬ ſchaftszimmer geführt. Dort lieh man den Grüßen erſt lebhaftere Worte und einen geregelten Ausdruck.
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an dem Halſe, und weinten. Meine ehrwürdige Mut¬
ter war von Mathilden umfaßt und an das Herz ge¬
drückt. Dann wurde der Vater von ihr anmuthsvoll
und herzlich gegrüßt, ſie reichte ihm beide Hände,
und ſah ihn mit ihren Augen, die noch immer ſo
ſchön waren, auf das Innigſte an. Natalie hatte
indeſſen die Hand meiner Mutter gefaßt, und ſie
geküßt. Dieſe gab den Kuß auf die Stirne des ſchö¬
nen Mädchens zurück. Der Vater wollte wahrſchein¬
lich etwas Heiteres oder gar Scherzhaftes zu Natalien
ſagen; aber als er ſie näher anblickte, wurde er ſehr
ernſt und beinahe ſcheu, er grüßte ſie anſtändig und
ſehr fein. Wahrſcheinlich hatte ihn ihre Schönheit
überraſcht, oder er erinnerte ſich, wie es auch mir
ergangen war, an die Pracht ſeiner geſchnittenen
Steine. Klotilde wurde von Mathilden auch an das
Herz gedrückt. Auf mich dachte beinahe niemand.
Ob dieſer Empfang der ſtrengen Umgangsſitte oder
irgend einer Rangordnung gemäß war, darnach fragte
niemand. Wir gingen unter einander gemiſcht die
Treppe hinan, und wurden in Mathildens Geſell¬
ſchaftszimmer geführt. Dort lieh man den Grüßen
erſt lebhaftere Worte und einen geregelten Ausdruck.
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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/381>, abgerufen am 22.11.2024.
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