Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stifter, Adalbert: Bunte Steine. Bd. 1. Pest u. a., 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

hörte man das Vieh brüllen, weil man es zu füttern
vergessen hatte, und manches Rind ging verwildert
herum, weil niemand war, es von der Weide in den
Stall zu bringen. Die Kinder liebten ihre Eltern
nicht mehr und die Eltern die Kinder nicht, man warf
nur die Todten in die Grube, und ging davon. Es
reiften die rothen Kirschen, aber niemand dachte an
sie, und niemand nahm sie von den Bäumen, es reif¬
ten die Getreide, aber sie wurden nicht in der Ordnung
und Reinlichkeit nach Hause gebracht, wie sonst, ja
manche wären gar nicht nach Hause gekommen, wenn
nicht doch noch ein mitleidiger Mann sie einem Büb¬
lein oder Mütterlein, die allein in einem Hause ge¬
sund geblieben waren, einbringen geholfen hätte.
Eines Sonntages, da der Pfarrer von Oberplan die
Kanzel bestieg, um die Predigt zu halten, waren mit
ihm sieben Personen in der Kirche; die andern waren
gestorben, oder waren krank oder bei der Krankenpflege,
oder aus Wirrniß und Starrsinn nicht gekommen.
Als sie dieses sahen, brachen sie in ein lautes Weinen
aus, der Pfarrer konnte keine Predigt halten, sondern
las eine stille Messe, und man ging auseinander.
Als die Krankheit ihren Gipfel erreicht hatte, als die
Menschen nicht mehr wußten, sollten sie in dem Him¬
mel oder auf der Erde Hilfe suchen, geschah es, daß

hörte man das Vieh brüllen, weil man es zu füttern
vergeſſen hatte, und manches Rind ging verwildert
herum, weil niemand war, es von der Weide in den
Stall zu bringen. Die Kinder liebten ihre Eltern
nicht mehr und die Eltern die Kinder nicht, man warf
nur die Todten in die Grube, und ging davon. Es
reiften die rothen Kirſchen, aber niemand dachte an
ſie, und niemand nahm ſie von den Bäumen, es reif¬
ten die Getreide, aber ſie wurden nicht in der Ordnung
und Reinlichkeit nach Hauſe gebracht, wie ſonſt, ja
manche wären gar nicht nach Hauſe gekommen, wenn
nicht doch noch ein mitleidiger Mann ſie einem Büb¬
lein oder Mütterlein, die allein in einem Hauſe ge¬
ſund geblieben waren, einbringen geholfen hätte.
Eines Sonntages, da der Pfarrer von Oberplan die
Kanzel beſtieg, um die Predigt zu halten, waren mit
ihm ſieben Perſonen in der Kirche; die andern waren
geſtorben, oder waren krank oder bei der Krankenpflege,
oder aus Wirrniß und Starrſinn nicht gekommen.
Als ſie dieſes ſahen, brachen ſie in ein lautes Weinen
aus, der Pfarrer konnte keine Predigt halten, ſondern
las eine ſtille Meſſe, und man ging auseinander.
Als die Krankheit ihren Gipfel erreicht hatte, als die
Menſchen nicht mehr wußten, ſollten ſie in dem Him¬
mel oder auf der Erde Hilfe ſuchen, geſchah es, daß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0056" n="43"/>
hörte man das Vieh brüllen, weil man es zu füttern<lb/>
verge&#x017F;&#x017F;en hatte, und manches Rind ging verwildert<lb/>
herum, weil niemand war, es von der Weide in den<lb/>
Stall zu bringen. Die Kinder liebten ihre Eltern<lb/>
nicht mehr und die Eltern die Kinder nicht, man warf<lb/>
nur die Todten in die Grube, und ging davon. Es<lb/>
reiften die rothen Kir&#x017F;chen, aber niemand dachte an<lb/>
&#x017F;ie, und niemand nahm &#x017F;ie von den Bäumen, es reif¬<lb/>
ten die Getreide, aber &#x017F;ie wurden nicht in der Ordnung<lb/>
und Reinlichkeit nach Hau&#x017F;e gebracht, wie &#x017F;on&#x017F;t, ja<lb/>
manche wären gar nicht nach Hau&#x017F;e gekommen, wenn<lb/>
nicht doch noch ein mitleidiger Mann &#x017F;ie einem Büb¬<lb/>
lein oder Mütterlein, die allein in einem Hau&#x017F;e ge¬<lb/>
&#x017F;und geblieben waren, einbringen geholfen hätte.<lb/>
Eines Sonntages, da der Pfarrer von Oberplan die<lb/>
Kanzel be&#x017F;tieg, um die Predigt zu halten, waren mit<lb/>
ihm &#x017F;ieben Per&#x017F;onen in der Kirche; die andern waren<lb/>
ge&#x017F;torben, oder waren krank oder bei der Krankenpflege,<lb/>
oder aus Wirrniß und Starr&#x017F;inn nicht gekommen.<lb/>
Als &#x017F;ie die&#x017F;es &#x017F;ahen, brachen &#x017F;ie in ein lautes Weinen<lb/>
aus, der Pfarrer konnte keine Predigt halten, &#x017F;ondern<lb/>
las eine &#x017F;tille Me&#x017F;&#x017F;e, und man ging auseinander.<lb/>
Als die Krankheit ihren Gipfel erreicht hatte, als die<lb/>
Men&#x017F;chen nicht mehr wußten, &#x017F;ollten &#x017F;ie in dem Him¬<lb/>
mel oder auf der Erde Hilfe &#x017F;uchen, ge&#x017F;chah es, daß<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0056] hörte man das Vieh brüllen, weil man es zu füttern vergeſſen hatte, und manches Rind ging verwildert herum, weil niemand war, es von der Weide in den Stall zu bringen. Die Kinder liebten ihre Eltern nicht mehr und die Eltern die Kinder nicht, man warf nur die Todten in die Grube, und ging davon. Es reiften die rothen Kirſchen, aber niemand dachte an ſie, und niemand nahm ſie von den Bäumen, es reif¬ ten die Getreide, aber ſie wurden nicht in der Ordnung und Reinlichkeit nach Hauſe gebracht, wie ſonſt, ja manche wären gar nicht nach Hauſe gekommen, wenn nicht doch noch ein mitleidiger Mann ſie einem Büb¬ lein oder Mütterlein, die allein in einem Hauſe ge¬ ſund geblieben waren, einbringen geholfen hätte. Eines Sonntages, da der Pfarrer von Oberplan die Kanzel beſtieg, um die Predigt zu halten, waren mit ihm ſieben Perſonen in der Kirche; die andern waren geſtorben, oder waren krank oder bei der Krankenpflege, oder aus Wirrniß und Starrſinn nicht gekommen. Als ſie dieſes ſahen, brachen ſie in ein lautes Weinen aus, der Pfarrer konnte keine Predigt halten, ſondern las eine ſtille Meſſe, und man ging auseinander. Als die Krankheit ihren Gipfel erreicht hatte, als die Menſchen nicht mehr wußten, ſollten ſie in dem Him¬ mel oder auf der Erde Hilfe ſuchen, geſchah es, daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_steine01_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_steine01_1853/56
Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Bunte Steine. Bd. 1. Pest u. a., 1853, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_steine01_1853/56>, abgerufen am 25.11.2024.