Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Sinne so viel als Scherz, für den christlichen Ernst ward aber
aus der Kurzweil eine Entbehrung, denn er versteht keinen
Spaß; "Frech" bedeutete früher nur kühn, tapfer: "Frevel"
war nur Wagniß. Bekannt ist, wie scheel lange Zeit das
Wort "Vernunft" angesehen wurde.

Unsere Sprache hat sich so ziemlich auf den christlichen
Standpunkt eingerichtet, und das allgemeine Bewußtsein ist noch
zu christlich, um nicht vor allem Nichtchristlichen als vor einem
Unvollkommenen oder Bösen zurückzuschrecken. Deshalb steht
es auch schlimm um den "Eigennutz".

Eigennutz im christlichen Sinne heißt etwa dieß: Ich sehe
nur darauf, ob etwas Mir als sinnlichem Menschen nützt.
Ist denn aber die Sinnlichkeit meine ganze Eigenheit? Bin
Ich bei Mir selbst, wenn Ich der Sinnlichkeit hingegeben bin?
Folge Ich Mir selbst, meiner eigenen Bestimmung, wenn
Ich jener folge? Mein eigen bin Ich erst, wenn nicht die
Sinnlichkeit, aber eben so wenig ein Anderer (Gott, Menschen,
Obrigkeit, Gesetz, Staat, Kirche u. s. w.) Mich in der Gewalt
haben, sondern Ich selbst; was Mir, diesem Selbsteigenen oder
Selbstangehörigen, nützt, das verfolgt mein Eigennutz.

Uebrigens sieht man sich alle Augenblicke genöthigt, an
den Eigennutz, den allezeit gelästerten, als an eine Alles be¬
wältigende Macht zu glauben. In der Sitzung vom 10. Febr.
1844 begründet Welcker eine Motion auf die Abhängigkeit der
Richter und thut in einer ausführlichen Rede dar, daß entsetz¬
bare, entlaßbare, versetzbare und pensionirbare Richter, kurz solche
Mitglieder eines Gerichtshofes, welche auf dem bloßen Admi¬
nistrationswege verkürzt und gefährdet werden können, aller
Zuverlässigkeit entbehren, ja aller Achtung und alles Vertrau¬
ens im Volke verlustig gehen. Der ganze Richterstand, ruft

Sinne ſo viel als Scherz, für den chriſtlichen Ernſt ward aber
aus der Kurzweil eine Entbehrung, denn er verſteht keinen
Spaß; „Frech“ bedeutete früher nur kühn, tapfer: „Frevel“
war nur Wagniß. Bekannt iſt, wie ſcheel lange Zeit das
Wort „Vernunft“ angeſehen wurde.

Unſere Sprache hat ſich ſo ziemlich auf den chriſtlichen
Standpunkt eingerichtet, und das allgemeine Bewußtſein iſt noch
zu chriſtlich, um nicht vor allem Nichtchriſtlichen als vor einem
Unvollkommenen oder Böſen zurückzuſchrecken. Deshalb ſteht
es auch ſchlimm um den „Eigennutz“.

Eigennutz im chriſtlichen Sinne heißt etwa dieß: Ich ſehe
nur darauf, ob etwas Mir als ſinnlichem Menſchen nützt.
Iſt denn aber die Sinnlichkeit meine ganze Eigenheit? Bin
Ich bei Mir ſelbſt, wenn Ich der Sinnlichkeit hingegeben bin?
Folge Ich Mir ſelbſt, meiner eigenen Beſtimmung, wenn
Ich jener folge? Mein eigen bin Ich erſt, wenn nicht die
Sinnlichkeit, aber eben ſo wenig ein Anderer (Gott, Menſchen,
Obrigkeit, Geſetz, Staat, Kirche u. ſ. w.) Mich in der Gewalt
haben, ſondern Ich ſelbſt; was Mir, dieſem Selbſteigenen oder
Selbſtangehörigen, nützt, das verfolgt mein Eigennutz.

Uebrigens ſieht man ſich alle Augenblicke genöthigt, an
den Eigennutz, den allezeit geläſterten, als an eine Alles be¬
wältigende Macht zu glauben. In der Sitzung vom 10. Febr.
1844 begründet Welcker eine Motion auf die Abhängigkeit der
Richter und thut in einer ausführlichen Rede dar, daß entſetz¬
bare, entlaßbare, verſetzbare und penſionirbare Richter, kurz ſolche
Mitglieder eines Gerichtshofes, welche auf dem bloßen Admi¬
niſtrationswege verkürzt und gefährdet werden können, aller
Zuverläſſigkeit entbehren, ja aller Achtung und alles Vertrau¬
ens im Volke verluſtig gehen. Der ganze Richterſtand, ruft

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0231" n="223"/>
Sinne &#x017F;o viel als Scherz, für den chri&#x017F;tlichen Ern&#x017F;t ward aber<lb/>
aus der Kurzweil eine Entbehrung, denn er ver&#x017F;teht keinen<lb/>
Spaß; &#x201E;Frech&#x201C; bedeutete früher nur kühn, tapfer: &#x201E;Frevel&#x201C;<lb/>
war nur Wagniß. Bekannt i&#x017F;t, wie &#x017F;cheel lange Zeit das<lb/>
Wort &#x201E;Vernunft&#x201C; ange&#x017F;ehen wurde.</p><lb/>
          <p>Un&#x017F;ere Sprache hat &#x017F;ich &#x017F;o ziemlich auf den chri&#x017F;tlichen<lb/>
Standpunkt eingerichtet, und das allgemeine Bewußt&#x017F;ein i&#x017F;t noch<lb/>
zu chri&#x017F;tlich, um nicht vor allem Nichtchri&#x017F;tlichen als vor einem<lb/>
Unvollkommenen oder Bö&#x017F;en zurückzu&#x017F;chrecken. Deshalb &#x017F;teht<lb/>
es auch &#x017F;chlimm um den &#x201E;Eigennutz&#x201C;.</p><lb/>
          <p>Eigennutz im chri&#x017F;tlichen Sinne heißt etwa dieß: Ich &#x017F;ehe<lb/>
nur darauf, ob etwas Mir als &#x017F;innlichem Men&#x017F;chen nützt.<lb/>
I&#x017F;t denn aber die Sinnlichkeit meine ganze Eigenheit? Bin<lb/>
Ich bei Mir &#x017F;elb&#x017F;t, wenn Ich der Sinnlichkeit hingegeben bin?<lb/>
Folge Ich Mir &#x017F;elb&#x017F;t, meiner <hi rendition="#g">eigenen</hi> Be&#x017F;timmung, wenn<lb/>
Ich jener folge? <hi rendition="#g">Mein eigen</hi> bin Ich er&#x017F;t, wenn nicht die<lb/>
Sinnlichkeit, aber eben &#x017F;o wenig ein Anderer (Gott, Men&#x017F;chen,<lb/>
Obrigkeit, Ge&#x017F;etz, Staat, Kirche u. &#x017F;. w.) Mich in der Gewalt<lb/>
haben, &#x017F;ondern Ich &#x017F;elb&#x017F;t; was Mir, die&#x017F;em Selb&#x017F;teigenen oder<lb/>
Selb&#x017F;tangehörigen, nützt, das verfolgt <hi rendition="#g">mein Eigennutz</hi>.</p><lb/>
          <p>Uebrigens &#x017F;ieht man &#x017F;ich alle Augenblicke genöthigt, an<lb/>
den Eigennutz, den allezeit gelä&#x017F;terten, als an eine Alles be¬<lb/>
wältigende Macht zu glauben. In der Sitzung vom 10. Febr.<lb/>
1844 begründet Welcker eine Motion auf die Abhängigkeit der<lb/>
Richter und thut in einer ausführlichen Rede dar, daß ent&#x017F;etz¬<lb/>
bare, entlaßbare, ver&#x017F;etzbare und pen&#x017F;ionirbare Richter, kurz &#x017F;olche<lb/>
Mitglieder eines Gerichtshofes, welche auf dem bloßen Admi¬<lb/>
ni&#x017F;trationswege verkürzt und gefährdet werden können, aller<lb/>
Zuverlä&#x017F;&#x017F;igkeit entbehren, ja aller Achtung und alles Vertrau¬<lb/>
ens im Volke verlu&#x017F;tig gehen. Der ganze Richter&#x017F;tand, ruft<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0231] Sinne ſo viel als Scherz, für den chriſtlichen Ernſt ward aber aus der Kurzweil eine Entbehrung, denn er verſteht keinen Spaß; „Frech“ bedeutete früher nur kühn, tapfer: „Frevel“ war nur Wagniß. Bekannt iſt, wie ſcheel lange Zeit das Wort „Vernunft“ angeſehen wurde. Unſere Sprache hat ſich ſo ziemlich auf den chriſtlichen Standpunkt eingerichtet, und das allgemeine Bewußtſein iſt noch zu chriſtlich, um nicht vor allem Nichtchriſtlichen als vor einem Unvollkommenen oder Böſen zurückzuſchrecken. Deshalb ſteht es auch ſchlimm um den „Eigennutz“. Eigennutz im chriſtlichen Sinne heißt etwa dieß: Ich ſehe nur darauf, ob etwas Mir als ſinnlichem Menſchen nützt. Iſt denn aber die Sinnlichkeit meine ganze Eigenheit? Bin Ich bei Mir ſelbſt, wenn Ich der Sinnlichkeit hingegeben bin? Folge Ich Mir ſelbſt, meiner eigenen Beſtimmung, wenn Ich jener folge? Mein eigen bin Ich erſt, wenn nicht die Sinnlichkeit, aber eben ſo wenig ein Anderer (Gott, Menſchen, Obrigkeit, Geſetz, Staat, Kirche u. ſ. w.) Mich in der Gewalt haben, ſondern Ich ſelbſt; was Mir, dieſem Selbſteigenen oder Selbſtangehörigen, nützt, das verfolgt mein Eigennutz. Uebrigens ſieht man ſich alle Augenblicke genöthigt, an den Eigennutz, den allezeit geläſterten, als an eine Alles be¬ wältigende Macht zu glauben. In der Sitzung vom 10. Febr. 1844 begründet Welcker eine Motion auf die Abhängigkeit der Richter und thut in einer ausführlichen Rede dar, daß entſetz¬ bare, entlaßbare, verſetzbare und penſionirbare Richter, kurz ſolche Mitglieder eines Gerichtshofes, welche auf dem bloßen Admi¬ niſtrationswege verkürzt und gefährdet werden können, aller Zuverläſſigkeit entbehren, ja aller Achtung und alles Vertrau¬ ens im Volke verluſtig gehen. Der ganze Richterſtand, ruft

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/231
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/231>, abgerufen am 27.11.2024.