sein Augenmerk zu richten. Ja, wäre das daran gefaßte In¬ teresse weniger leidenschaftlich und verblendet, so würde man über die Gesellschaft nicht so sehr die Einzelnen darin aus den Augen verlieren, und erkennen, daß eine Gesellschaft nicht neu werden kann, so lange diejenigen, welche sie ausmachen und constituiren, die alten bleiben. Sollte z. B. im jüdischen Volke eine Gesellschaft entstehen, welche einen neuen Glauben über die Erde verbreitete, so durften diese Apostel doch keine Pha¬ risäer bleiben.
Wie Du bist, so giebst Du Dich, so benimmst Du Dich gegen die Menschen: ein Heuchler als Heuchler, ein Christ als Christ. Darum bestimmt den Charakter einer Gesellschaft der Charakter ihrer Mitglieder: sie sind die Schöpfer derselben. So viel müßte man wenigstens einsehen, wenn man auch den Begriff "Gesellschaft" selbst nicht Prüfen wollte.
Immer fern davon, Sich zur vollen Entwicklung und Geltung kommen zu lassen, haben die Menschen bisher auch ihre Gesellschaften nicht auf Sich gründen, oder vielmehr, sie haben nur "Gesellschaften" gründen und in Gesellschaften leben können. Es waren die Gesellschaften immer Personen, mäch¬ tige Personen, sogenannte "moralische Personen", d. h. Ge¬ spenster, vor welchen der Einzelne den angemessenen Sparren, die Gespensterfurcht, hatte. Als solche Gespenster können sie am füglichsten mit dem Namen "Volk" und respective "Völk¬ chen" bezeichnet werden: das Volk der Erzväter, das Volk der Hellenen u. s. w., endlich das -- Menschenvolk, die Mensch¬ heit (Anacharsis Cloots schwärmte für die "Nation" der Menschheit), dann jegliche Unterabtheilung dieses "Volkes", das seine besonderen Gesellschaften haben konnte und mußte, das spanische, französische Volk u. s. w., innerhalb desselben
ſein Augenmerk zu richten. Ja, wäre das daran gefaßte In¬ tereſſe weniger leidenſchaftlich und verblendet, ſo würde man über die Geſellſchaft nicht ſo ſehr die Einzelnen darin aus den Augen verlieren, und erkennen, daß eine Geſellſchaft nicht neu werden kann, ſo lange diejenigen, welche ſie ausmachen und conſtituiren, die alten bleiben. Sollte z. B. im jüdiſchen Volke eine Geſellſchaft entſtehen, welche einen neuen Glauben über die Erde verbreitete, ſo durften dieſe Apoſtel doch keine Pha¬ riſäer bleiben.
Wie Du biſt, ſo giebſt Du Dich, ſo benimmſt Du Dich gegen die Menſchen: ein Heuchler als Heuchler, ein Chriſt als Chriſt. Darum beſtimmt den Charakter einer Geſellſchaft der Charakter ihrer Mitglieder: ſie ſind die Schöpfer derſelben. So viel müßte man wenigſtens einſehen, wenn man auch den Begriff „Geſellſchaft“ ſelbſt nicht Prüfen wollte.
Immer fern davon, Sich zur vollen Entwicklung und Geltung kommen zu laſſen, haben die Menſchen bisher auch ihre Geſellſchaften nicht auf Sich gründen, oder vielmehr, ſie haben nur „Geſellſchaften“ gründen und in Geſellſchaften leben können. Es waren die Geſellſchaften immer Perſonen, mäch¬ tige Perſonen, ſogenannte „moraliſche Perſonen“, d. h. Ge¬ ſpenſter, vor welchen der Einzelne den angemeſſenen Sparren, die Geſpenſterfurcht, hatte. Als ſolche Geſpenſter können ſie am füglichſten mit dem Namen „Volk“ und reſpective „Völk¬ chen“ bezeichnet werden: das Volk der Erzväter, das Volk der Hellenen u. ſ. w., endlich das — Menſchenvolk, die Menſch¬ heit (Anacharſis Cloots ſchwärmte für die „Nation“ der Menſchheit), dann jegliche Unterabtheilung dieſes „Volkes“, das ſeine beſonderen Geſellſchaften haben konnte und mußte, das ſpaniſche, franzöſiſche Volk u. ſ. w., innerhalb deſſelben
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0285"n="277"/>ſein Augenmerk zu richten. Ja, wäre das daran gefaßte In¬<lb/>
tereſſe weniger leidenſchaftlich und verblendet, ſo würde man<lb/>
über die Geſellſchaft nicht ſo ſehr die Einzelnen darin aus den<lb/>
Augen verlieren, und erkennen, daß eine Geſellſchaft nicht neu<lb/>
werden kann, ſo lange diejenigen, welche ſie ausmachen und<lb/>
conſtituiren, die alten bleiben. Sollte z. B. im jüdiſchen Volke<lb/>
eine Geſellſchaft entſtehen, welche einen neuen Glauben über<lb/>
die Erde verbreitete, ſo durften dieſe Apoſtel doch keine Pha¬<lb/>
riſäer bleiben.</p><lb/><p>Wie Du biſt, ſo giebſt Du Dich, ſo benimmſt Du Dich<lb/>
gegen die Menſchen: ein Heuchler als Heuchler, ein Chriſt als<lb/>
Chriſt. Darum beſtimmt den Charakter einer Geſellſchaft der<lb/>
Charakter ihrer Mitglieder: ſie ſind die Schöpfer derſelben.<lb/>
So viel müßte man wenigſtens einſehen, wenn man auch den<lb/>
Begriff „Geſellſchaft“ſelbſt nicht Prüfen wollte.</p><lb/><p>Immer fern davon, <hirendition="#g">Sich</hi> zur vollen Entwicklung und<lb/>
Geltung kommen zu laſſen, haben die Menſchen bisher auch<lb/>
ihre Geſellſchaften nicht auf <hirendition="#g">Sich</hi> gründen, oder vielmehr, ſie<lb/>
haben nur „Geſellſchaften“ gründen und in Geſellſchaften leben<lb/>
können. Es waren die Geſellſchaften immer Perſonen, mäch¬<lb/>
tige Perſonen, ſogenannte „moraliſche Perſonen“, d. h. Ge¬<lb/>ſpenſter, vor welchen der Einzelne den angemeſſenen Sparren,<lb/>
die Geſpenſterfurcht, hatte. Als ſolche Geſpenſter können ſie<lb/>
am füglichſten mit dem Namen „Volk“ und reſpective „Völk¬<lb/>
chen“ bezeichnet werden: das Volk der Erzväter, das Volk der<lb/>
Hellenen u. ſ. w., endlich das — Menſchenvolk, die Menſch¬<lb/>
heit (Anacharſis Cloots ſchwärmte für die „Nation“ der<lb/>
Menſchheit), dann jegliche Unterabtheilung dieſes „Volkes“,<lb/>
das ſeine beſonderen Geſellſchaften haben konnte und mußte,<lb/>
das ſpaniſche, franzöſiſche Volk u. ſ. w., innerhalb deſſelben<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[277/0285]
ſein Augenmerk zu richten. Ja, wäre das daran gefaßte In¬
tereſſe weniger leidenſchaftlich und verblendet, ſo würde man
über die Geſellſchaft nicht ſo ſehr die Einzelnen darin aus den
Augen verlieren, und erkennen, daß eine Geſellſchaft nicht neu
werden kann, ſo lange diejenigen, welche ſie ausmachen und
conſtituiren, die alten bleiben. Sollte z. B. im jüdiſchen Volke
eine Geſellſchaft entſtehen, welche einen neuen Glauben über
die Erde verbreitete, ſo durften dieſe Apoſtel doch keine Pha¬
riſäer bleiben.
Wie Du biſt, ſo giebſt Du Dich, ſo benimmſt Du Dich
gegen die Menſchen: ein Heuchler als Heuchler, ein Chriſt als
Chriſt. Darum beſtimmt den Charakter einer Geſellſchaft der
Charakter ihrer Mitglieder: ſie ſind die Schöpfer derſelben.
So viel müßte man wenigſtens einſehen, wenn man auch den
Begriff „Geſellſchaft“ ſelbſt nicht Prüfen wollte.
Immer fern davon, Sich zur vollen Entwicklung und
Geltung kommen zu laſſen, haben die Menſchen bisher auch
ihre Geſellſchaften nicht auf Sich gründen, oder vielmehr, ſie
haben nur „Geſellſchaften“ gründen und in Geſellſchaften leben
können. Es waren die Geſellſchaften immer Perſonen, mäch¬
tige Perſonen, ſogenannte „moraliſche Perſonen“, d. h. Ge¬
ſpenſter, vor welchen der Einzelne den angemeſſenen Sparren,
die Geſpenſterfurcht, hatte. Als ſolche Geſpenſter können ſie
am füglichſten mit dem Namen „Volk“ und reſpective „Völk¬
chen“ bezeichnet werden: das Volk der Erzväter, das Volk der
Hellenen u. ſ. w., endlich das — Menſchenvolk, die Menſch¬
heit (Anacharſis Cloots ſchwärmte für die „Nation“ der
Menſchheit), dann jegliche Unterabtheilung dieſes „Volkes“,
das ſeine beſonderen Geſellſchaften haben konnte und mußte,
das ſpaniſche, franzöſiſche Volk u. ſ. w., innerhalb deſſelben
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/285>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.