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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Wallt hingegen in seinen Adern das egoistische Blut feu¬
rig genug, so zieht er es vor, an der Familie zum "Verbre¬
cher" zu werden und ihren Gesetzen sich zu entziehen.

Was von beiden liegt Mir näher am Herzen, das Fami¬
lienwohl oder mein Wohl? In unzähligen Fällen werden
beide friedlich mit einander gehen und der Nutzen, welcher der
Familie zu Theil wird, zugleich der meinige sein und umge¬
kehrt. Da läßt sich's schwer entscheiden, ob Ich eigennützig
oder gemeinnützig denke, und Ich schmeichle Mir vielleicht
wohlgefällig mit meiner Uneigennützigkeit. Aber es kommt
der Tag, wo ein Entweder -- Oder Mich zittern macht, wo
Ich meinen Stammbaum zu entehren, Aeltern, Geschwister,
Verwandte vor den Kopf zu stoßen im Begriff stehe. Wie
dann? Nun wird sich's zeigen, wie Ich im Grunde meines
Herzens gesonnen bin; nun wird's offenbar werden, ob Mir
die Pietät jemals höher gestanden als der Egoismus, nun
wird der Eigennützige sich nicht länger hinter den Schein der
Uneigennützigkeit verkriechen können. Ein Wunsch steigt in
meiner Seele auf, und wachsend von Stunde zu Stunde wird
er zur Leidenschaft. Wer denkt auch gleich daran, daß schon
der leiseste Gedanke, welcher gegen den Familiengeist, die Pie¬
tät, auslaufen kann, ein Vergehen gegen denselben in sich
trägt, ja wer ist sich denn im ersten Augenblick sogleich der
Sache vollkommen bewußt! Julie in "Romeo und Julie" er¬
geht es so. Die unbändige Leidenschaft läßt sich endlich nicht
mehr zähmen und untergräbt das Gebäude der Pietät. Frei¬
lich werdet Ihr sagen, die Familie werfe aus Eigensinn jene
Eigenwilligen, welche ihrer Leidenschaft mehr Gehör schenken
als der Pietät, aus ihrem Schooße; die guten Protestanten
haben dieselbe Ausrede gegen die Katholiken mit vielem Erfolg

Wallt hingegen in ſeinen Adern das egoiſtiſche Blut feu¬
rig genug, ſo zieht er es vor, an der Familie zum „Verbre¬
cher“ zu werden und ihren Geſetzen ſich zu entziehen.

Was von beiden liegt Mir näher am Herzen, das Fami¬
lienwohl oder mein Wohl? In unzähligen Fällen werden
beide friedlich mit einander gehen und der Nutzen, welcher der
Familie zu Theil wird, zugleich der meinige ſein und umge¬
kehrt. Da läßt ſich's ſchwer entſcheiden, ob Ich eigennützig
oder gemeinnützig denke, und Ich ſchmeichle Mir vielleicht
wohlgefällig mit meiner Uneigennützigkeit. Aber es kommt
der Tag, wo ein Entweder — Oder Mich zittern macht, wo
Ich meinen Stammbaum zu entehren, Aeltern, Geſchwiſter,
Verwandte vor den Kopf zu ſtoßen im Begriff ſtehe. Wie
dann? Nun wird ſich's zeigen, wie Ich im Grunde meines
Herzens geſonnen bin; nun wird's offenbar werden, ob Mir
die Pietät jemals höher geſtanden als der Egoismus, nun
wird der Eigennützige ſich nicht länger hinter den Schein der
Uneigennützigkeit verkriechen können. Ein Wunſch ſteigt in
meiner Seele auf, und wachſend von Stunde zu Stunde wird
er zur Leidenſchaft. Wer denkt auch gleich daran, daß ſchon
der leiſeſte Gedanke, welcher gegen den Familiengeiſt, die Pie¬
tät, auslaufen kann, ein Vergehen gegen denſelben in ſich
trägt, ja wer iſt ſich denn im erſten Augenblick ſogleich der
Sache vollkommen bewußt! Julie in „Romeo und Julie“ er¬
geht es ſo. Die unbändige Leidenſchaft läßt ſich endlich nicht
mehr zähmen und untergräbt das Gebäude der Pietät. Frei¬
lich werdet Ihr ſagen, die Familie werfe aus Eigenſinn jene
Eigenwilligen, welche ihrer Leidenſchaft mehr Gehör ſchenken
als der Pietät, aus ihrem Schooße; die guten Proteſtanten
haben dieſelbe Ausrede gegen die Katholiken mit vielem Erfolg

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[290/0298] Wallt hingegen in ſeinen Adern das egoiſtiſche Blut feu¬ rig genug, ſo zieht er es vor, an der Familie zum „Verbre¬ cher“ zu werden und ihren Geſetzen ſich zu entziehen. Was von beiden liegt Mir näher am Herzen, das Fami¬ lienwohl oder mein Wohl? In unzähligen Fällen werden beide friedlich mit einander gehen und der Nutzen, welcher der Familie zu Theil wird, zugleich der meinige ſein und umge¬ kehrt. Da läßt ſich's ſchwer entſcheiden, ob Ich eigennützig oder gemeinnützig denke, und Ich ſchmeichle Mir vielleicht wohlgefällig mit meiner Uneigennützigkeit. Aber es kommt der Tag, wo ein Entweder — Oder Mich zittern macht, wo Ich meinen Stammbaum zu entehren, Aeltern, Geſchwiſter, Verwandte vor den Kopf zu ſtoßen im Begriff ſtehe. Wie dann? Nun wird ſich's zeigen, wie Ich im Grunde meines Herzens geſonnen bin; nun wird's offenbar werden, ob Mir die Pietät jemals höher geſtanden als der Egoismus, nun wird der Eigennützige ſich nicht länger hinter den Schein der Uneigennützigkeit verkriechen können. Ein Wunſch ſteigt in meiner Seele auf, und wachſend von Stunde zu Stunde wird er zur Leidenſchaft. Wer denkt auch gleich daran, daß ſchon der leiſeſte Gedanke, welcher gegen den Familiengeiſt, die Pie¬ tät, auslaufen kann, ein Vergehen gegen denſelben in ſich trägt, ja wer iſt ſich denn im erſten Augenblick ſogleich der Sache vollkommen bewußt! Julie in „Romeo und Julie“ er¬ geht es ſo. Die unbändige Leidenſchaft läßt ſich endlich nicht mehr zähmen und untergräbt das Gebäude der Pietät. Frei¬ lich werdet Ihr ſagen, die Familie werfe aus Eigenſinn jene Eigenwilligen, welche ihrer Leidenſchaft mehr Gehör ſchenken als der Pietät, aus ihrem Schooße; die guten Proteſtanten haben dieſelbe Ausrede gegen die Katholiken mit vielem Erfolg

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/298>, abgerufen am 23.11.2024.