worauf die Alten den größten Werth legten, wird von den Christen als das Werthlose verworfen, und was jene als das Wahre erkannten, brandmarken diese als eitle Lüge: die hohe Bedeutung des Vaterlandes verschwindet, und der Christ muß sich für einen "Fremdling auf Erden" ansehen*), die Heiligkeit der Todtenbestattung, aus der ein Kunstwerk wie die sopho¬ kleische Antigone entsprang, wird als eine Erbärmlichkeit be¬ zeichnet ("Laß die Todten ihre Todten begraben"), die unver¬ brüchliche Wahrheit der Familienbande wird als eine Unwahr¬ heit dargestellt, von der man nicht zeitig genug sich losmachen könne**), und so in Allem.
Sieht man nun ein, daß beiden Theilen das Umgekehrte für Wahrheit gilt, den Einen das Natürliche, den Andern das Geistige, den Einen die irdischen Dinge und Verhältnisse, den Andern die himmlischen (das himmlische Vaterland, "das Je¬ rusalem, das droben ist" u. s. w.), so bleibt immer noch zu betrachten, wie aus dem Alterthum die neue Zeit und jene unleugbare Umkehrung hervorgehen konnte. Es haben die Alten aber selbst darauf hingearbeitet, ihre Wahrheit zu einer Lüge zu machen.
Greifen Wir sogleich mitten in die glänzendsten Jahre der Alten hinein, in das perikleische Jahrhundert. Damals griff die sophistische Zeitbildung um sich, und Griechenland trieb mit dem Kurzweile, was ihm seither ein ungeheurer Ernst ge¬ wesen war.
Zu lange waren die Väter von der Gewalt des ungerüt¬ telten Bestehenden geknechtet worden, als daß die Nachkommen
*) Hebräer 11, 13.
**) Marc. 10, 29.
worauf die Alten den größten Werth legten, wird von den Chriſten als das Werthloſe verworfen, und was jene als das Wahre erkannten, brandmarken dieſe als eitle Lüge: die hohe Bedeutung des Vaterlandes verſchwindet, und der Chriſt muß ſich für einen „Fremdling auf Erden“ anſehen*), die Heiligkeit der Todtenbeſtattung, aus der ein Kunſtwerk wie die ſopho¬ kleiſche Antigone entſprang, wird als eine Erbärmlichkeit be¬ zeichnet („Laß die Todten ihre Todten begraben“), die unver¬ brüchliche Wahrheit der Familienbande wird als eine Unwahr¬ heit dargeſtellt, von der man nicht zeitig genug ſich losmachen könne**), und ſo in Allem.
Sieht man nun ein, daß beiden Theilen das Umgekehrte für Wahrheit gilt, den Einen das Natürliche, den Andern das Geiſtige, den Einen die irdiſchen Dinge und Verhältniſſe, den Andern die himmliſchen (das himmliſche Vaterland, „das Je¬ ruſalem, das droben iſt“ u. ſ. w.), ſo bleibt immer noch zu betrachten, wie aus dem Alterthum die neue Zeit und jene unleugbare Umkehrung hervorgehen konnte. Es haben die Alten aber ſelbſt darauf hingearbeitet, ihre Wahrheit zu einer Lüge zu machen.
Greifen Wir ſogleich mitten in die glänzendſten Jahre der Alten hinein, in das perikleiſche Jahrhundert. Damals griff die ſophiſtiſche Zeitbildung um ſich, und Griechenland trieb mit dem Kurzweile, was ihm ſeither ein ungeheurer Ernſt ge¬ weſen war.
Zu lange waren die Väter von der Gewalt des ungerüt¬ telten Beſtehenden geknechtet worden, als daß die Nachkommen
*) Hebräer 11, 13.
**) Marc. 10, 29.
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worauf die Alten den größten Werth legten, wird von den
Chriſten als das Werthloſe verworfen, und was jene als das
Wahre erkannten, brandmarken dieſe als eitle Lüge: die hohe
Bedeutung des Vaterlandes verſchwindet, und der Chriſt muß
ſich für einen „Fremdling auf Erden“ anſehen *), die Heiligkeit
der Todtenbeſtattung, aus der ein Kunſtwerk wie die ſopho¬
kleiſche Antigone entſprang, wird als eine Erbärmlichkeit be¬
zeichnet („Laß die Todten ihre Todten begraben“), die unver¬
brüchliche Wahrheit der Familienbande wird als eine Unwahr¬
heit dargeſtellt, von der man nicht zeitig genug ſich losmachen
könne **), und ſo in Allem.
Sieht man nun ein, daß beiden Theilen das Umgekehrte
für Wahrheit gilt, den Einen das Natürliche, den Andern das
Geiſtige, den Einen die irdiſchen Dinge und Verhältniſſe, den
Andern die himmliſchen (das himmliſche Vaterland, „das Je¬
ruſalem, das droben iſt“ u. ſ. w.), ſo bleibt immer noch zu
betrachten, wie aus dem Alterthum die neue Zeit und jene
unleugbare Umkehrung hervorgehen konnte. Es haben die
Alten aber ſelbſt darauf hingearbeitet, ihre Wahrheit zu einer
Lüge zu machen.
Greifen Wir ſogleich mitten in die glänzendſten Jahre der
Alten hinein, in das perikleiſche Jahrhundert. Damals griff
die ſophiſtiſche Zeitbildung um ſich, und Griechenland trieb
mit dem Kurzweile, was ihm ſeither ein ungeheurer Ernſt ge¬
weſen war.
Zu lange waren die Väter von der Gewalt des ungerüt¬
telten Beſtehenden geknechtet worden, als daß die Nachkommen
*)
Hebräer 11, 13.
**)
Marc. 10, 29.
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/31>, abgerufen am 21.11.2024.
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