schen. Die Einen berufen sich auf das göttliche, die Andern auf das menschliche Recht oder die Menschenrechte.
So viel ist klar, daß in beiden Fällen sich der Einzelne nicht selbst berechtigt.
Sucht Mir heute einmal eine Handlung, die nicht eine Rechtsverletzung wäre! Alle Augenblicke werden von der einen Seite die Menschenrechte mit Füßen getreten, während die Geg¬ ner den Mund nicht aufthun können, ohne eine Blasphemie gegen das göttliche Recht hervorzubringen. Gebt ein Almosen, so verhöhnt Ihr ein Menschenrecht, weil das Verhältniß von Bettler und Wohlthäter ein unmenschliches ist; sprecht einen Zweifel aus, so sündigt Ihr wider ein göttliches Recht. Esset trockenes Brod mit Zufriedenheit, so verletzt Ihr das Men¬ schenrecht durch euren Gleichmuth: esset es mit Unzufrieden¬ heit, so schmäht Ihr das göttliche Recht durch euren Wider¬ willen. Es ist nicht Einer unter Euch, der nicht in jedem Augenblicke ein Verbrechen beginge: eure Reden sind Verbrechen, und jede Hemmung eurer Redefreiheit ist nicht minder ein Verbrechen. Ihr seid allzumal Verbrecher!
Doch Ihr seid es nur, indem Ihr Alle auf dem Rechts¬ boden steht, d. h. indem Ihr es nicht einmal wißt und zu schätzen versteht, daß Ihr Verbrecher seid.
Das unverletzliche oder heilige Eigenthum ist auf eben diesem Boden gewachsen: es ist ein Rechtsbegriff.
Ein Hund sieht den Knochen in eines andern Gewalt und steht nur ab, wenn er sich zu schwach fühlt. Der Mensch aber respectirt das Recht des Andern an seinem Knochen. Dieß also gilt für menschlich, jenes für brutal oder "egoistisch".
Und wie hier, so heißt überhaupt dieß "menschlich", wenn man in Allem etwas Geistiges sieht (hier das Recht),
ſchen. Die Einen berufen ſich auf das göttliche, die Andern auf das menſchliche Recht oder die Menſchenrechte.
So viel iſt klar, daß in beiden Fällen ſich der Einzelne nicht ſelbſt berechtigt.
Sucht Mir heute einmal eine Handlung, die nicht eine Rechtsverletzung wäre! Alle Augenblicke werden von der einen Seite die Menſchenrechte mit Füßen getreten, während die Geg¬ ner den Mund nicht aufthun können, ohne eine Blasphemie gegen das göttliche Recht hervorzubringen. Gebt ein Almoſen, ſo verhöhnt Ihr ein Menſchenrecht, weil das Verhältniß von Bettler und Wohlthäter ein unmenſchliches iſt; ſprecht einen Zweifel aus, ſo ſündigt Ihr wider ein göttliches Recht. Eſſet trockenes Brod mit Zufriedenheit, ſo verletzt Ihr das Men¬ ſchenrecht durch euren Gleichmuth: eſſet es mit Unzufrieden¬ heit, ſo ſchmäht Ihr das göttliche Recht durch euren Wider¬ willen. Es iſt nicht Einer unter Euch, der nicht in jedem Augenblicke ein Verbrechen beginge: eure Reden ſind Verbrechen, und jede Hemmung eurer Redefreiheit iſt nicht minder ein Verbrechen. Ihr ſeid allzumal Verbrecher!
Doch Ihr ſeid es nur, indem Ihr Alle auf dem Rechts¬ boden ſteht, d. h. indem Ihr es nicht einmal wißt und zu ſchätzen verſteht, daß Ihr Verbrecher ſeid.
Das unverletzliche oder heilige Eigenthum iſt auf eben dieſem Boden gewachſen: es iſt ein Rechtsbegriff.
Ein Hund ſieht den Knochen in eines andern Gewalt und ſteht nur ab, wenn er ſich zu ſchwach fühlt. Der Menſch aber reſpectirt das Recht des Andern an ſeinem Knochen. Dieß alſo gilt für menſchlich, jenes für brutal oder „egoiſtiſch“.
Und wie hier, ſo heißt überhaupt dieß „menſchlich“, wenn man in Allem etwas Geiſtiges ſieht (hier das Recht),
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ſchen. Die Einen berufen ſich auf das göttliche, die Andern
auf das menſchliche Recht oder die Menſchenrechte.
So viel iſt klar, daß in beiden Fällen ſich der Einzelne
nicht ſelbſt berechtigt.
Sucht Mir heute einmal eine Handlung, die nicht eine
Rechtsverletzung wäre! Alle Augenblicke werden von der einen
Seite die Menſchenrechte mit Füßen getreten, während die Geg¬
ner den Mund nicht aufthun können, ohne eine Blasphemie
gegen das göttliche Recht hervorzubringen. Gebt ein Almoſen,
ſo verhöhnt Ihr ein Menſchenrecht, weil das Verhältniß von
Bettler und Wohlthäter ein unmenſchliches iſt; ſprecht einen
Zweifel aus, ſo ſündigt Ihr wider ein göttliches Recht. Eſſet
trockenes Brod mit Zufriedenheit, ſo verletzt Ihr das Men¬
ſchenrecht durch euren Gleichmuth: eſſet es mit Unzufrieden¬
heit, ſo ſchmäht Ihr das göttliche Recht durch euren Wider¬
willen. Es iſt nicht Einer unter Euch, der nicht in jedem
Augenblicke ein Verbrechen beginge: eure Reden ſind Verbrechen,
und jede Hemmung eurer Redefreiheit iſt nicht minder ein
Verbrechen. Ihr ſeid allzumal Verbrecher!
Doch Ihr ſeid es nur, indem Ihr Alle auf dem Rechts¬
boden ſteht, d. h. indem Ihr es nicht einmal wißt und zu
ſchätzen verſteht, daß Ihr Verbrecher ſeid.
Das unverletzliche oder heilige Eigenthum iſt auf eben
dieſem Boden gewachſen: es iſt ein Rechtsbegriff.
Ein Hund ſieht den Knochen in eines andern Gewalt und
ſteht nur ab, wenn er ſich zu ſchwach fühlt. Der Menſch aber
reſpectirt das Recht des Andern an ſeinem Knochen. Dieß
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Und wie hier, ſo heißt überhaupt dieß „menſchlich“,
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/376>, abgerufen am 23.11.2024.
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