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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Es ist verächtlich, ein Vertrauen, das Wir freiwillig her¬
vorrufen, zu täuschen; aber Jeden, der Uns durch einen Eid
in seine Gewalt bekommen will, an der Erfolglosigkeit seiner
zutrauenslosen List verbluten zu lassen, macht dem Egoismus
keine Schande. Hast Du Mich binden wollen, so erfahre
denn, daß Ich deine Bande zu sprengen weiß.

Es kommt darauf an, ob Ich dem Vertrauenden das
Recht zum Vertrauen gebe. Wenn der Verfolger meines
Freundes Mich fragt, wohin dieser sich geflüchtet habe, so werde
Ich ihn sicherlich auf eine falsche Fährte bringen. Warum
fragt er gerade Mich, den Freund des Verfolgten? Um nicht
ein falscher, verrätherischer Freund zu sein, ziehe Ich's vor,
gegen den Feind falsch zu sein. Ich könnte freilich aus mu¬
thiger Gewissenhaftigkeit antworten: Ich wolle es nicht sagen
(So entscheidet Fichte den Fall); dadurch salvirte Ich meine
Wahrheitsliebe und thäte für den Freund so viel als -- nichts,
denn leite Ich den Feind nicht irre, so kann er zufällig die
rechte Straße einschlagen, und meine Wahrheitsliebe hätte den
Freund preisgegeben, weil sie Mich hinderte an dem -- Muthe
zur Lüge. Wer an der Wahrheit ein Idol, ein Heiliges
hat, der muß sich vor ihr demüthigen, darf ihren Anforde¬
rungen nicht trotzen, nicht muthig widerstehen, kurz er muß
dem Heldenmuth der Lüge entsagen. Denn zur Lüge ge¬
hört nicht weniger Muth als zur Wahrheit, ein Muth, an
welchem es am meisten Jünglingen zu gebrechen pflegt, die
lieber die Wahrheit gestehen und das Schaffot dafür besteigen,
als durch die Frechheit einer Lüge die Macht der Feinde zu
Schanden machen mögen. Jenen ist die Wahrheit "heilig",
und das Heilige fordert allezeit blinde Verehrung, Unterwerfung
und Aufopferung. Seid Ihr nicht frech, nicht Spötter des

Es iſt verächtlich, ein Vertrauen, das Wir freiwillig her¬
vorrufen, zu täuſchen; aber Jeden, der Uns durch einen Eid
in ſeine Gewalt bekommen will, an der Erfolgloſigkeit ſeiner
zutrauensloſen Liſt verbluten zu laſſen, macht dem Egoismus
keine Schande. Haſt Du Mich binden wollen, ſo erfahre
denn, daß Ich deine Bande zu ſprengen weiß.

Es kommt darauf an, ob Ich dem Vertrauenden das
Recht zum Vertrauen gebe. Wenn der Verfolger meines
Freundes Mich fragt, wohin dieſer ſich geflüchtet habe, ſo werde
Ich ihn ſicherlich auf eine falſche Fährte bringen. Warum
fragt er gerade Mich, den Freund des Verfolgten? Um nicht
ein falſcher, verrätheriſcher Freund zu ſein, ziehe Ich's vor,
gegen den Feind falſch zu ſein. Ich könnte freilich aus mu¬
thiger Gewiſſenhaftigkeit antworten: Ich wolle es nicht ſagen
(So entſcheidet Fichte den Fall); dadurch ſalvirte Ich meine
Wahrheitsliebe und thäte für den Freund ſo viel als — nichts,
denn leite Ich den Feind nicht irre, ſo kann er zufällig die
rechte Straße einſchlagen, und meine Wahrheitsliebe hätte den
Freund preisgegeben, weil ſie Mich hinderte an dem — Muthe
zur Lüge. Wer an der Wahrheit ein Idol, ein Heiliges
hat, der muß ſich vor ihr demüthigen, darf ihren Anforde¬
rungen nicht trotzen, nicht muthig widerſtehen, kurz er muß
dem Heldenmuth der Lüge entſagen. Denn zur Lüge ge¬
hört nicht weniger Muth als zur Wahrheit, ein Muth, an
welchem es am meiſten Jünglingen zu gebrechen pflegt, die
lieber die Wahrheit geſtehen und das Schaffot dafür beſteigen,
als durch die Frechheit einer Lüge die Macht der Feinde zu
Schanden machen mögen. Jenen iſt die Wahrheit „heilig“,
und das Heilige fordert allezeit blinde Verehrung, Unterwerfung
und Aufopferung. Seid Ihr nicht frech, nicht Spötter des

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[402/0410] Es iſt verächtlich, ein Vertrauen, das Wir freiwillig her¬ vorrufen, zu täuſchen; aber Jeden, der Uns durch einen Eid in ſeine Gewalt bekommen will, an der Erfolgloſigkeit ſeiner zutrauensloſen Liſt verbluten zu laſſen, macht dem Egoismus keine Schande. Haſt Du Mich binden wollen, ſo erfahre denn, daß Ich deine Bande zu ſprengen weiß. Es kommt darauf an, ob Ich dem Vertrauenden das Recht zum Vertrauen gebe. Wenn der Verfolger meines Freundes Mich fragt, wohin dieſer ſich geflüchtet habe, ſo werde Ich ihn ſicherlich auf eine falſche Fährte bringen. Warum fragt er gerade Mich, den Freund des Verfolgten? Um nicht ein falſcher, verrätheriſcher Freund zu ſein, ziehe Ich's vor, gegen den Feind falſch zu ſein. Ich könnte freilich aus mu¬ thiger Gewiſſenhaftigkeit antworten: Ich wolle es nicht ſagen (So entſcheidet Fichte den Fall); dadurch ſalvirte Ich meine Wahrheitsliebe und thäte für den Freund ſo viel als — nichts, denn leite Ich den Feind nicht irre, ſo kann er zufällig die rechte Straße einſchlagen, und meine Wahrheitsliebe hätte den Freund preisgegeben, weil ſie Mich hinderte an dem — Muthe zur Lüge. Wer an der Wahrheit ein Idol, ein Heiliges hat, der muß ſich vor ihr demüthigen, darf ihren Anforde¬ rungen nicht trotzen, nicht muthig widerſtehen, kurz er muß dem Heldenmuth der Lüge entſagen. Denn zur Lüge ge¬ hört nicht weniger Muth als zur Wahrheit, ein Muth, an welchem es am meiſten Jünglingen zu gebrechen pflegt, die lieber die Wahrheit geſtehen und das Schaffot dafür beſteigen, als durch die Frechheit einer Lüge die Macht der Feinde zu Schanden machen mögen. Jenen iſt die Wahrheit „heilig“, und das Heilige fordert allezeit blinde Verehrung, Unterwerfung und Aufopferung. Seid Ihr nicht frech, nicht Spötter des

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/410>, abgerufen am 24.11.2024.