zudrücken vermag. Ist etwa, um sogleich den liberalen Be¬ griff desselben vorzuführen, das "menschliche" und "wahrhaft menschliche" nicht das wahre Leben? Und führt etwa Jeder schon von Haus aus dieß wahrhaft menschliche Leben, oder muß er mit saurer Mühe sich erst dazu erheben? Hat er es schon als sein gegenwärtiges, oder muß er's als sein zukünfti¬ ges Leben erringen, das ihm erst dann zu Theil wird, wenn er "von keinem Egoismus mehr befleckt ist"? Das Leben ist bei dieser Ansicht nur dazu da, um Leben zu gewinnen, und man lebt nur, um das Wesen des Menschen in sich lebendig zu machen, man lebt um dieses Wesens willen. Man hat sein Leben nur, um sich mittelst desselben das "wahre", von allem Egoismus gereinigte Leben zu verschaffen. Daher fürch¬ tet man sich, von seinem Leben einen beliebigen Gebrauch zu machen: es soll nur zum "rechten Gebrauche" dienen.
Kurz man hat einen Lebensberuf, eine Lebensaufgabe, hat durch sein Leben Etwas zu verwirklichen und herzustellen, ein Etwas, für welches unser Leben nur Mittel und Werk¬ zeug ist, ein Etwas, das mehr werth ist, als dieses Leben, ein Etwas, dem man das Leben schuldig ist. Man hat einen Gott, der ein lebendiges Opfer verlangt. Nur die Rohheit des Menschenopfers hat sich mit der Zeit verloren; das Menschenopfer selbst ist unverkürzt geblieben, und stündlich fallen Verbrecher der Gerechtigkeit zum Opfer, und Wir "ar¬ men Sünder" schlachten Uns sebst zum Opfer für "das menschliche Wesen", die "Idee der Menschheit", die "Mensch¬ lichkeit" und wie die Götzen oder Götter sonst noch heißen.
Weil Wir aber unser Leben jenem Etwas schulden, darum haben Wir -- dieß das Nächste -- kein Recht es uns zu nehmen.
zudrücken vermag. Iſt etwa, um ſogleich den liberalen Be¬ griff deſſelben vorzuführen, das „menſchliche“ und „wahrhaft menſchliche“ nicht das wahre Leben? Und führt etwa Jeder ſchon von Haus aus dieß wahrhaft menſchliche Leben, oder muß er mit ſaurer Mühe ſich erſt dazu erheben? Hat er es ſchon als ſein gegenwärtiges, oder muß er's als ſein zukünfti¬ ges Leben erringen, das ihm erſt dann zu Theil wird, wenn er „von keinem Egoismus mehr befleckt iſt“? Das Leben iſt bei dieſer Anſicht nur dazu da, um Leben zu gewinnen, und man lebt nur, um das Weſen des Menſchen in ſich lebendig zu machen, man lebt um dieſes Weſens willen. Man hat ſein Leben nur, um ſich mittelſt deſſelben das „wahre“, von allem Egoismus gereinigte Leben zu verſchaffen. Daher fürch¬ tet man ſich, von ſeinem Leben einen beliebigen Gebrauch zu machen: es ſoll nur zum „rechten Gebrauche“ dienen.
Kurz man hat einen Lebensberuf, eine Lebensaufgabe, hat durch ſein Leben Etwas zu verwirklichen und herzuſtellen, ein Etwas, für welches unſer Leben nur Mittel und Werk¬ zeug iſt, ein Etwas, das mehr werth iſt, als dieſes Leben, ein Etwas, dem man das Leben ſchuldig iſt. Man hat einen Gott, der ein lebendiges Opfer verlangt. Nur die Rohheit des Menſchenopfers hat ſich mit der Zeit verloren; das Menſchenopfer ſelbſt iſt unverkürzt geblieben, und ſtündlich fallen Verbrecher der Gerechtigkeit zum Opfer, und Wir „ar¬ men Sünder“ ſchlachten Uns ſebſt zum Opfer für „das menſchliche Weſen“, die „Idee der Menſchheit“, die „Menſch¬ lichkeit“ und wie die Götzen oder Götter ſonſt noch heißen.
Weil Wir aber unſer Leben jenem Etwas ſchulden, darum haben Wir — dieß das Nächſte — kein Recht es uns zu nehmen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0438"n="430"/>
zudrücken vermag. Iſt etwa, um ſogleich den liberalen Be¬<lb/>
griff deſſelben vorzuführen, das „menſchliche“ und „wahrhaft<lb/>
menſchliche“ nicht das wahre Leben? Und führt etwa Jeder<lb/>ſchon von Haus aus dieß wahrhaft menſchliche Leben, oder<lb/>
muß er mit ſaurer Mühe ſich erſt dazu erheben? Hat er es<lb/>ſchon als ſein gegenwärtiges, oder muß er's als ſein zukünfti¬<lb/>
ges Leben erringen, das ihm erſt dann zu Theil wird, wenn<lb/>
er „von keinem Egoismus mehr befleckt iſt“? Das Leben iſt<lb/>
bei dieſer Anſicht nur dazu da, um Leben zu gewinnen, und<lb/>
man lebt nur, um das Weſen des Menſchen in ſich lebendig<lb/>
zu machen, man lebt um dieſes Weſens willen. Man hat<lb/>ſein Leben nur, um ſich mittelſt deſſelben das „wahre“, von<lb/>
allem Egoismus gereinigte Leben zu verſchaffen. Daher fürch¬<lb/>
tet man ſich, von ſeinem Leben einen beliebigen Gebrauch zu<lb/>
machen: es ſoll nur zum „rechten Gebrauche“ dienen.</p><lb/><p>Kurz man hat einen <hirendition="#g">Lebensberuf</hi>, eine Lebensaufgabe,<lb/>
hat durch ſein Leben Etwas zu verwirklichen und herzuſtellen,<lb/>
ein Etwas, für welches unſer Leben nur Mittel und Werk¬<lb/>
zeug iſt, ein Etwas, das mehr werth iſt, als dieſes Leben,<lb/>
ein Etwas, dem man das Leben <hirendition="#g">ſchuldig</hi> iſt. Man hat<lb/>
einen Gott, der ein <hirendition="#g">lebendiges Opfer</hi> verlangt. Nur die<lb/>
Rohheit des Menſchenopfers hat ſich mit der Zeit verloren;<lb/>
das Menſchenopfer ſelbſt iſt unverkürzt geblieben, und ſtündlich<lb/>
fallen Verbrecher der Gerechtigkeit zum Opfer, und Wir „ar¬<lb/>
men Sünder“ſchlachten Uns ſebſt zum Opfer für „das<lb/>
menſchliche Weſen“, die „Idee der Menſchheit“, die „Menſch¬<lb/>
lichkeit“ und wie die Götzen oder Götter ſonſt noch heißen.</p><lb/><p>Weil Wir aber unſer Leben jenem Etwas ſchulden, darum<lb/>
haben Wir — dieß das Nächſte — kein Recht es uns zu<lb/>
nehmen.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[430/0438]
zudrücken vermag. Iſt etwa, um ſogleich den liberalen Be¬
griff deſſelben vorzuführen, das „menſchliche“ und „wahrhaft
menſchliche“ nicht das wahre Leben? Und führt etwa Jeder
ſchon von Haus aus dieß wahrhaft menſchliche Leben, oder
muß er mit ſaurer Mühe ſich erſt dazu erheben? Hat er es
ſchon als ſein gegenwärtiges, oder muß er's als ſein zukünfti¬
ges Leben erringen, das ihm erſt dann zu Theil wird, wenn
er „von keinem Egoismus mehr befleckt iſt“? Das Leben iſt
bei dieſer Anſicht nur dazu da, um Leben zu gewinnen, und
man lebt nur, um das Weſen des Menſchen in ſich lebendig
zu machen, man lebt um dieſes Weſens willen. Man hat
ſein Leben nur, um ſich mittelſt deſſelben das „wahre“, von
allem Egoismus gereinigte Leben zu verſchaffen. Daher fürch¬
tet man ſich, von ſeinem Leben einen beliebigen Gebrauch zu
machen: es ſoll nur zum „rechten Gebrauche“ dienen.
Kurz man hat einen Lebensberuf, eine Lebensaufgabe,
hat durch ſein Leben Etwas zu verwirklichen und herzuſtellen,
ein Etwas, für welches unſer Leben nur Mittel und Werk¬
zeug iſt, ein Etwas, das mehr werth iſt, als dieſes Leben,
ein Etwas, dem man das Leben ſchuldig iſt. Man hat
einen Gott, der ein lebendiges Opfer verlangt. Nur die
Rohheit des Menſchenopfers hat ſich mit der Zeit verloren;
das Menſchenopfer ſelbſt iſt unverkürzt geblieben, und ſtündlich
fallen Verbrecher der Gerechtigkeit zum Opfer, und Wir „ar¬
men Sünder“ ſchlachten Uns ſebſt zum Opfer für „das
menſchliche Weſen“, die „Idee der Menſchheit“, die „Menſch¬
lichkeit“ und wie die Götzen oder Götter ſonſt noch heißen.
Weil Wir aber unſer Leben jenem Etwas ſchulden, darum
haben Wir — dieß das Nächſte — kein Recht es uns zu
nehmen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/438>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.