Man jagt dem "rechten" Kriterium nach. Dieß rechte Krite¬ rium ist die erste Voraussetzung. Der Kritiker geht von einem Satze, einer Wahrheit, einem Glauben aus. Dieser ist nicht eine Schöpfung des Kritikers, sondern des Dogmatikers, ja er wird sogar gewöhnlich aus der Zeitbildung ohne Weiteres auf¬ genommen, wie z. B. "die Freiheit", "die Menschlichkeit" u. s. w. Der Kritiker hat nicht "den Menschen gefunden", sondern als "der Mensch" ist diese Wahrheit vom Dogmatiker festgestellt worden, und der Kritiker, der übrigens mit jenem dieselbe Person sein kann, glaubt an diese Wahrheit, diesen Glaubenssatz. In diesem Glauben und besessen von diesem Glauben kritisirt er.
Das Geheimniß der Kritik ist irgend eine "Wahrheit": diese bleibt ihr energirendes Mysterium.
Aber Ich unterscheide zwischen dienstbarer und eige¬ ner Kritik. Kritisire Ich unter der Voraussetzung eines höch¬ sten Wesens, so dient meine Kritik dem Wesen und wird um seinetwillen geführt: bin Ich z. B. besessen von dem Glauben an einen "freien Staat", so kritisire Ich alles dahin Einschla¬ gende von dem Gesichtspunkte aus, ob es diesem Staate con¬ venirt; denn Ich liebe diesen Staat; kritisire ich als From¬ mer, so zerfällt Mir Alles in göttlich und teuflisch, und die Natur besteht vor meiner Kritik aus Gottesspuren oder Teu¬ felsspuren (daher Benennungen wie: Gottesgabe, Gottesberg, Teufelskanzel u. s. w.), die Menschen aus Gläubigen und Ungläubigen u. s. w.; kritisire Ich, indem Ich an den Men¬ schen als das "wahre Wesen" glaube, so zerfällt Mir zunächst Alles in den Menschen und den Unmenschen u. s. w.
Die Kritik ist bis auf den heutigen Tag ein Werk der Liebe geblieben: denn wir übten sie allezeit einem Wesen zu
Man jagt dem „rechten“ Kriterium nach. Dieß rechte Krite¬ rium iſt die erſte Vorausſetzung. Der Kritiker geht von einem Satze, einer Wahrheit, einem Glauben aus. Dieſer iſt nicht eine Schöpfung des Kritikers, ſondern des Dogmatikers, ja er wird ſogar gewöhnlich aus der Zeitbildung ohne Weiteres auf¬ genommen, wie z. B. „die Freiheit“, „die Menſchlichkeit“ u. ſ. w. Der Kritiker hat nicht „den Menſchen gefunden“, ſondern als „der Menſch“ iſt dieſe Wahrheit vom Dogmatiker feſtgeſtellt worden, und der Kritiker, der übrigens mit jenem dieſelbe Perſon ſein kann, glaubt an dieſe Wahrheit, dieſen Glaubensſatz. In dieſem Glauben und beſeſſen von dieſem Glauben kritiſirt er.
Das Geheimniß der Kritik iſt irgend eine „Wahrheit“: dieſe bleibt ihr energirendes Myſterium.
Aber Ich unterſcheide zwiſchen dienſtbarer und eige¬ ner Kritik. Kritiſire Ich unter der Vorausſetzung eines höch¬ ſten Weſens, ſo dient meine Kritik dem Weſen und wird um ſeinetwillen geführt: bin Ich z. B. beſeſſen von dem Glauben an einen „freien Staat“, ſo kritiſire Ich alles dahin Einſchla¬ gende von dem Geſichtspunkte aus, ob es dieſem Staate con¬ venirt; denn Ich liebe dieſen Staat; kritiſire ich als From¬ mer, ſo zerfällt Mir Alles in göttlich und teufliſch, und die Natur beſteht vor meiner Kritik aus Gottesſpuren oder Teu¬ felsſpuren (daher Benennungen wie: Gottesgabe, Gottesberg, Teufelskanzel u. ſ. w.), die Menſchen aus Gläubigen und Ungläubigen u. ſ. w.; kritiſire Ich, indem Ich an den Men¬ ſchen als das „wahre Weſen“ glaube, ſo zerfällt Mir zunächſt Alles in den Menſchen und den Unmenſchen u. ſ. w.
Die Kritik iſt bis auf den heutigen Tag ein Werk der Liebe geblieben: denn wir übten ſie allezeit einem Weſen zu
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Man jagt dem „rechten“ Kriterium nach. Dieß rechte Krite¬
rium iſt die erſte Vorausſetzung. Der Kritiker geht von einem
Satze, einer Wahrheit, einem Glauben aus. Dieſer iſt nicht
eine Schöpfung des Kritikers, ſondern des Dogmatikers, ja er
wird ſogar gewöhnlich aus der Zeitbildung ohne Weiteres auf¬
genommen, wie z. B. „die Freiheit“, „die Menſchlichkeit“
u. ſ. w. Der Kritiker hat nicht „den Menſchen gefunden“,
ſondern als „der Menſch“ iſt dieſe Wahrheit vom Dogmatiker
feſtgeſtellt worden, und der Kritiker, der übrigens mit jenem
dieſelbe Perſon ſein kann, glaubt an dieſe Wahrheit, dieſen
Glaubensſatz. In dieſem Glauben und beſeſſen von dieſem
Glauben kritiſirt er.
Das Geheimniß der Kritik iſt irgend eine „Wahrheit“:
dieſe bleibt ihr energirendes Myſterium.
Aber Ich unterſcheide zwiſchen dienſtbarer und eige¬
ner Kritik. Kritiſire Ich unter der Vorausſetzung eines höch¬
ſten Weſens, ſo dient meine Kritik dem Weſen und wird um
ſeinetwillen geführt: bin Ich z. B. beſeſſen von dem Glauben
an einen „freien Staat“, ſo kritiſire Ich alles dahin Einſchla¬
gende von dem Geſichtspunkte aus, ob es dieſem Staate con¬
venirt; denn Ich liebe dieſen Staat; kritiſire ich als From¬
mer, ſo zerfällt Mir Alles in göttlich und teufliſch, und die
Natur beſteht vor meiner Kritik aus Gottesſpuren oder Teu¬
felsſpuren (daher Benennungen wie: Gottesgabe, Gottesberg,
Teufelskanzel u. ſ. w.), die Menſchen aus Gläubigen und
Ungläubigen u. ſ. w.; kritiſire Ich, indem Ich an den Men¬
ſchen als das „wahre Weſen“ glaube, ſo zerfällt Mir zunächſt
Alles in den Menſchen und den Unmenſchen u. ſ. w.
Die Kritik iſt bis auf den heutigen Tag ein Werk der
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/476>, abgerufen am 23.11.2024.
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