Opposition das sittliche Verhältniß vor Allem bewahrt werden. Was bleibt da der Opposition übrig? Etwa dieß, eine Frei¬ heit zu wollen, wenn der Geliebte sie abzuschlagen für gut findet? Mit nichten! Wollen darf sie die Freiheit nicht; sie kann sie nur wünschen, darum "petitioniren", ein "Bitte, bitte!" lallen. Was sollte daraus werden, wenn die Opposi¬ tion wirklich wollte, wollte mit der vollen Energie des Wil¬ lens? Nein, sie muß auf den Willen Verzicht leisten, um der Liebe zu leben, auf die Freiheit -- der Sittlichkeit zu Liebe. Sie darf nie "als ein Recht in Anspruch nehmen", was ihr nur "als Gunst zu erbitten" erlaubt ist. Die Liebe, Ergebenheit u. s. w. heischt mit unabwendbarer Bestimmt¬ heit, daß nur Ein Wille sei, dem die Andern sich ergeben, dem sie dienen, folgen, den sie lieben. Ob dieser Wille für ver¬ nünftig oder für unvernünftig gelte: man handelt in beiden Fällen sittlich, wenn man ihm folgt, und unsittlich, wenn man sich ihm entzieht. Der Wille, der die Censur gebietet, scheint Vielen unvernünftig; wer aber sein Buch im Lande der Censur dieser unterschlägt, der handelt unsittlich, und wer ihr's vorlegt, handelt sittlich. Quittirte Einer sein sittliches Urtheil, und errichtete z. B. eine geheime Presse, so müßte man ihn unsitt¬ lich nennen, und unklug obenein, wenn er sich erwischen ließe; aber wird ein solcher Anspruch daraus machen, in den Augen der "Sittlichen" einen Werth zu haben? Vielleicht! -- Wenn er sich nämlich einbildete, einer "höhern Sittlichkeit" zu dienen.
Das Gewebe der heutigen Heuchelei hängt an den Marken zweier Gebiete, zwischen denen Unsere Zeit herüber und hinüber schwebt und ihre feinen Fäden der Täuschung und Selbsttäuschung anklebt. Nicht mehr kräftig genug, um zweifellos und ungeschwächt der Sittlichkeit zu dienen, noch nicht rücksichtslos genug, um
Oppoſition das ſittliche Verhältniß vor Allem bewahrt werden. Was bleibt da der Oppoſition übrig? Etwa dieß, eine Frei¬ heit zu wollen, wenn der Geliebte ſie abzuſchlagen für gut findet? Mit nichten! Wollen darf ſie die Freiheit nicht; ſie kann ſie nur wünſchen, darum „petitioniren“, ein „Bitte, bitte!“ lallen. Was ſollte daraus werden, wenn die Oppoſi¬ tion wirklich wollte, wollte mit der vollen Energie des Wil¬ lens? Nein, ſie muß auf den Willen Verzicht leiſten, um der Liebe zu leben, auf die Freiheit — der Sittlichkeit zu Liebe. Sie darf nie „als ein Recht in Anſpruch nehmen“, was ihr nur „als Gunſt zu erbitten“ erlaubt iſt. Die Liebe, Ergebenheit u. ſ. w. heiſcht mit unabwendbarer Beſtimmt¬ heit, daß nur Ein Wille ſei, dem die Andern ſich ergeben, dem ſie dienen, folgen, den ſie lieben. Ob dieſer Wille für ver¬ nünftig oder für unvernünftig gelte: man handelt in beiden Fällen ſittlich, wenn man ihm folgt, und unſittlich, wenn man ſich ihm entzieht. Der Wille, der die Cenſur gebietet, ſcheint Vielen unvernünftig; wer aber ſein Buch im Lande der Cenſur dieſer unterſchlägt, der handelt unſittlich, und wer ihr's vorlegt, handelt ſittlich. Quittirte Einer ſein ſittliches Urtheil, und errichtete z. B. eine geheime Preſſe, ſo müßte man ihn unſitt¬ lich nennen, und unklug obenein, wenn er ſich erwiſchen ließe; aber wird ein ſolcher Anſpruch daraus machen, in den Augen der „Sittlichen“ einen Werth zu haben? Vielleicht! — Wenn er ſich nämlich einbildete, einer „höhern Sittlichkeit“ zu dienen.
Das Gewebe der heutigen Heuchelei hängt an den Marken zweier Gebiete, zwiſchen denen Unſere Zeit herüber und hinüber ſchwebt und ihre feinen Fäden der Täuſchung und Selbſttäuſchung anklebt. Nicht mehr kräftig genug, um zweifellos und ungeſchwächt der Sittlichkeit zu dienen, noch nicht rückſichtslos genug, um
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Oppoſition das ſittliche Verhältniß vor Allem bewahrt werden.
Was bleibt da der Oppoſition übrig? Etwa dieß, eine Frei¬
heit zu wollen, wenn der Geliebte ſie abzuſchlagen für gut
findet? Mit nichten! Wollen darf ſie die Freiheit nicht;
ſie kann ſie nur wünſchen, darum „petitioniren“, ein „Bitte,
bitte!“ lallen. Was ſollte daraus werden, wenn die Oppoſi¬
tion wirklich wollte, wollte mit der vollen Energie des Wil¬
lens? Nein, ſie muß auf den Willen Verzicht leiſten, um
der Liebe zu leben, auf die Freiheit — der Sittlichkeit zu
Liebe. Sie darf nie „als ein Recht in Anſpruch nehmen“,
was ihr nur „als Gunſt zu erbitten“ erlaubt iſt. Die Liebe,
Ergebenheit u. ſ. w. heiſcht mit unabwendbarer Beſtimmt¬
heit, daß nur Ein Wille ſei, dem die Andern ſich ergeben, dem
ſie dienen, folgen, den ſie lieben. Ob dieſer Wille für ver¬
nünftig oder für unvernünftig gelte: man handelt in beiden
Fällen ſittlich, wenn man ihm folgt, und unſittlich, wenn man
ſich ihm entzieht. Der Wille, der die Cenſur gebietet, ſcheint
Vielen unvernünftig; wer aber ſein Buch im Lande der Cenſur
dieſer unterſchlägt, der handelt unſittlich, und wer ihr's vorlegt,
handelt ſittlich. Quittirte Einer ſein ſittliches Urtheil, und
errichtete z. B. eine geheime Preſſe, ſo müßte man ihn unſitt¬
lich nennen, und unklug obenein, wenn er ſich erwiſchen ließe;
aber wird ein ſolcher Anſpruch daraus machen, in den Augen
der „Sittlichen“ einen Werth zu haben? Vielleicht! — Wenn
er ſich nämlich einbildete, einer „höhern Sittlichkeit“ zu dienen.
Das Gewebe der heutigen Heuchelei hängt an den Marken
zweier Gebiete, zwiſchen denen Unſere Zeit herüber und hinüber
ſchwebt und ihre feinen Fäden der Täuſchung und Selbſttäuſchung
anklebt. Nicht mehr kräftig genug, um zweifellos und ungeſchwächt
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/77>, abgerufen am 25.11.2024.
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