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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Menschen willen, oder um der Sittlichkeit willen, um des
Menschen willen, also -- denn homo homini Deus -- um
Gottes willen?


Der Sparren hat noch eine Menge von formellen Seiten,
deren einige hier anzudeuten, nützlich sein möchte.

So ist die Selbstverleugnung den Heiligen gemein
mit den Unheiligen, den Reinen und Unreinen. Der Unreine
verleugnet alle "besseren Gefühle", alle Scham, ja die
natürliche Furchtsamkeit, und folgt nur der ihn beherrschenden
Begierde. Der Reine verleugnet seine natürliche Beziehung
zur Welt ("verleugnet die Welt") und folgt nur dem ihn be¬
herrschenden "Verlangen". Von Gelddurst getrieben verleugnet
der Habgierige alle Mahnungen des Gewissens, alles Ehrge¬
fühl, alle Milde und alles Mitleid: er setzt alle Rücksichten
aus den Augen: ihn reißt die Begierde fort. Gleiches begeht
der Heilige. Er macht sich zum "Spotte der Welt", ist hart¬
herzig und "strenggerecht"; denn ihn reißt das Verlangen fort.
Wie der Unheilige vor dem Mammon sich selbst verleugnet,
so verleugnet der Heilige sich vor Gott und den göttlichen
Gesetzen. Wir leben jetzt in einer Zeit, wo die Unver¬
schämtheit
der Heiligen täglich mehr gefühlt und aufgedeckt
wird, wodurch sie zugleich gezwungen ist, sich selbst täglich
mehr zu enthüllen und bloß zu stellen. Uebersteigt nicht die
Unverschämtheit und Dummheit der Gründe, mit denen man
dem "Fortschritt der Zeit" entgegenwirkt, längst alles Maaß
und alle Erwartung? Aber es muß so kommen. Die Selbst¬
verleugnenden müssen als Heilige denselben Gang nehmen,
wie als Unheilige, und wie diese nach und nach ins vollste
Maaß selbstverleugnender Gemeinheit und Niedrigkeit ver¬

Menſchen willen, oder um der Sittlichkeit willen, um des
Menſchen willen, alſo — denn homo homini Deus — um
Gottes willen?


Der Sparren hat noch eine Menge von formellen Seiten,
deren einige hier anzudeuten, nützlich ſein möchte.

So iſt die Selbſtverleugnung den Heiligen gemein
mit den Unheiligen, den Reinen und Unreinen. Der Unreine
verleugnet alle „beſſeren Gefühle“, alle Scham, ja die
natürliche Furchtſamkeit, und folgt nur der ihn beherrſchenden
Begierde. Der Reine verleugnet ſeine natürliche Beziehung
zur Welt („verleugnet die Welt“) und folgt nur dem ihn be¬
herrſchenden „Verlangen“. Von Gelddurſt getrieben verleugnet
der Habgierige alle Mahnungen des Gewiſſens, alles Ehrge¬
fühl, alle Milde und alles Mitleid: er ſetzt alle Rückſichten
aus den Augen: ihn reißt die Begierde fort. Gleiches begeht
der Heilige. Er macht ſich zum „Spotte der Welt“, iſt hart¬
herzig und „ſtrenggerecht“; denn ihn reißt das Verlangen fort.
Wie der Unheilige vor dem Mammon ſich ſelbſt verleugnet,
ſo verleugnet der Heilige ſich vor Gott und den göttlichen
Geſetzen. Wir leben jetzt in einer Zeit, wo die Unver¬
ſchämtheit
der Heiligen täglich mehr gefühlt und aufgedeckt
wird, wodurch ſie zugleich gezwungen iſt, ſich ſelbſt täglich
mehr zu enthüllen und bloß zu ſtellen. Ueberſteigt nicht die
Unverſchämtheit und Dummheit der Gründe, mit denen man
dem „Fortſchritt der Zeit“ entgegenwirkt, längſt alles Maaß
und alle Erwartung? Aber es muß ſo kommen. Die Selbſt¬
verleugnenden müſſen als Heilige denſelben Gang nehmen,
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[78/0086] Menſchen willen, oder um der Sittlichkeit willen, um des Menſchen willen, alſo — denn homo homini Deus — um Gottes willen? Der Sparren hat noch eine Menge von formellen Seiten, deren einige hier anzudeuten, nützlich ſein möchte. So iſt die Selbſtverleugnung den Heiligen gemein mit den Unheiligen, den Reinen und Unreinen. Der Unreine verleugnet alle „beſſeren Gefühle“, alle Scham, ja die natürliche Furchtſamkeit, und folgt nur der ihn beherrſchenden Begierde. Der Reine verleugnet ſeine natürliche Beziehung zur Welt („verleugnet die Welt“) und folgt nur dem ihn be¬ herrſchenden „Verlangen“. Von Gelddurſt getrieben verleugnet der Habgierige alle Mahnungen des Gewiſſens, alles Ehrge¬ fühl, alle Milde und alles Mitleid: er ſetzt alle Rückſichten aus den Augen: ihn reißt die Begierde fort. Gleiches begeht der Heilige. Er macht ſich zum „Spotte der Welt“, iſt hart¬ herzig und „ſtrenggerecht“; denn ihn reißt das Verlangen fort. Wie der Unheilige vor dem Mammon ſich ſelbſt verleugnet, ſo verleugnet der Heilige ſich vor Gott und den göttlichen Geſetzen. Wir leben jetzt in einer Zeit, wo die Unver¬ ſchämtheit der Heiligen täglich mehr gefühlt und aufgedeckt wird, wodurch ſie zugleich gezwungen iſt, ſich ſelbſt täglich mehr zu enthüllen und bloß zu ſtellen. Ueberſteigt nicht die Unverſchämtheit und Dummheit der Gründe, mit denen man dem „Fortſchritt der Zeit“ entgegenwirkt, längſt alles Maaß und alle Erwartung? Aber es muß ſo kommen. Die Selbſt¬ verleugnenden müſſen als Heilige denſelben Gang nehmen, wie als Unheilige, und wie dieſe nach und nach ins vollſte Maaß ſelbſtverleugnender Gemeinheit und Niedrigkeit ver¬

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/86>, abgerufen am 25.11.2024.