unantastbar oder "heilig" werden dürfe? Dann ginge es auf die Auflösung des Geistes, Auflösung aller Gedanken, aller Vorstellungen aus. Wie es dort heißen mußte: Wir sollen zwar Begierden haben, aber die Begierden sollen Uns nicht haben, so hieße es nun: Wir sollen zwar Geist haben, aber der Geist soll Uns nicht haben. Scheint das Letztere eines rechten Sinnes zu ermangeln, so denke man z. B. daran, daß bei so Manchem ein Gedanke zur "Maxime" wird, wo¬ durch Er selbst in dessen Gefangenschaft geräth, so daß nicht Er die Maxime, sondern diese vielmehr Ihn hat. Und mit der Maxime hat er wieder einen "festen Standpunkt". Die Lehren des Katechismus werden unversehens Unsere Grundsätze und ertragen keine Verwerfung mehr. Der Gedanke derselben oder der -- Geist hat die alleinige Gewalt, und keine Einrede des "Fleisches" wird weiter gehört. Gleichwohl aber kann Ich nur durch das "Fleisch" die Tyrannei des Geistes brechen; denn nur, wenn ein Mensch auch sein Fleisch vernimmt, ver¬ nimmt er sich ganz, und nur, wenn er sich ganz vernimmt, ist er vernehmend oder vernünftig. Der Christ vernimmt den Jammer seiner geknechteten Natur nicht, sondern lebt in "De¬ muth"; darum murrt er nicht gegen die Unbill, welche seiner Person widerfährt: mit der "Geistesfreiheit" glaubt er sich befriedigt. Führt aber einmal das Fleisch das Wort und ist der Ton desselben, wie es nicht anders sein kann, "leidenschaft¬ lich", "unanständig", "nicht wohlmeinend", "böswillig" u. s. w. so glaubt er Teufelsstimmen zu vernehmen, Stimmen gegen den Geist (denn Anstand, Leidenschaftlosigkeit, Wohlmeinung u. dergl. ist eben -- Geist), und eifert mit Recht dagegen. Er müßte nicht Christ sein, wenn er sie dulden wollte. Er hört nur auf die Sittlichkeit, und schlägt die Sittenlosigkeit
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unantaſtbar oder „heilig“ werden dürfe? Dann ginge es auf die Auflöſung des Geiſtes, Auflöſung aller Gedanken, aller Vorſtellungen aus. Wie es dort heißen mußte: Wir ſollen zwar Begierden haben, aber die Begierden ſollen Uns nicht haben, ſo hieße es nun: Wir ſollen zwar Geiſt haben, aber der Geiſt ſoll Uns nicht haben. Scheint das Letztere eines rechten Sinnes zu ermangeln, ſo denke man z. B. daran, daß bei ſo Manchem ein Gedanke zur „Maxime“ wird, wo¬ durch Er ſelbſt in deſſen Gefangenſchaft geräth, ſo daß nicht Er die Maxime, ſondern dieſe vielmehr Ihn hat. Und mit der Maxime hat er wieder einen „feſten Standpunkt“. Die Lehren des Katechismus werden unverſehens Unſere Grundſätze und ertragen keine Verwerfung mehr. Der Gedanke derſelben oder der — Geiſt hat die alleinige Gewalt, und keine Einrede des „Fleiſches“ wird weiter gehört. Gleichwohl aber kann Ich nur durch das „Fleiſch“ die Tyrannei des Geiſtes brechen; denn nur, wenn ein Menſch auch ſein Fleiſch vernimmt, ver¬ nimmt er ſich ganz, und nur, wenn er ſich ganz vernimmt, iſt er vernehmend oder vernünftig. Der Chriſt vernimmt den Jammer ſeiner geknechteten Natur nicht, ſondern lebt in „De¬ muth“; darum murrt er nicht gegen die Unbill, welche ſeiner Perſon widerfährt: mit der „Geiſtesfreiheit“ glaubt er ſich befriedigt. Führt aber einmal das Fleiſch das Wort und iſt der Ton deſſelben, wie es nicht anders ſein kann, „leidenſchaft¬ lich“, „unanſtändig“, „nicht wohlmeinend“, „böswillig“ u. ſ. w. ſo glaubt er Teufelsſtimmen zu vernehmen, Stimmen gegen den Geiſt (denn Anſtand, Leidenſchaftloſigkeit, Wohlmeinung u. dergl. iſt eben — Geiſt), und eifert mit Recht dagegen. Er müßte nicht Chriſt ſein, wenn er ſie dulden wollte. Er hört nur auf die Sittlichkeit, und ſchlägt die Sittenloſigkeit
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unantaſtbar oder „heilig“ werden dürfe? Dann ginge es auf
die Auflöſung des Geiſtes, Auflöſung aller Gedanken,
aller Vorſtellungen aus. Wie es dort heißen mußte: Wir
ſollen zwar Begierden haben, aber die Begierden ſollen Uns
nicht haben, ſo hieße es nun: Wir ſollen zwar Geiſt haben,
aber der Geiſt ſoll Uns nicht haben. Scheint das Letztere
eines rechten Sinnes zu ermangeln, ſo denke man z. B. daran,
daß bei ſo Manchem ein Gedanke zur „Maxime“ wird, wo¬
durch Er ſelbſt in deſſen Gefangenſchaft geräth, ſo daß nicht
Er die Maxime, ſondern dieſe vielmehr Ihn hat. Und mit der
Maxime hat er wieder einen „feſten Standpunkt“. Die Lehren
des Katechismus werden unverſehens Unſere Grundſätze
und ertragen keine Verwerfung mehr. Der Gedanke derſelben
oder der — Geiſt hat die alleinige Gewalt, und keine Einrede
des „Fleiſches“ wird weiter gehört. Gleichwohl aber kann Ich
nur durch das „Fleiſch“ die Tyrannei des Geiſtes brechen;
denn nur, wenn ein Menſch auch ſein Fleiſch vernimmt, ver¬
nimmt er ſich ganz, und nur, wenn er ſich ganz vernimmt,
iſt er vernehmend oder vernünftig. Der Chriſt vernimmt den
Jammer ſeiner geknechteten Natur nicht, ſondern lebt in „De¬
muth“; darum murrt er nicht gegen die Unbill, welche ſeiner
Perſon widerfährt: mit der „Geiſtesfreiheit“ glaubt er ſich
befriedigt. Führt aber einmal das Fleiſch das Wort und iſt
der Ton deſſelben, wie es nicht anders ſein kann, „leidenſchaft¬
lich“, „unanſtändig“, „nicht wohlmeinend“, „böswillig“ u. ſ. w.
ſo glaubt er Teufelsſtimmen zu vernehmen, Stimmen gegen
den Geiſt (denn Anſtand, Leidenſchaftloſigkeit, Wohlmeinung
u. dergl. iſt eben — Geiſt), und eifert mit Recht dagegen.
Er müßte nicht Chriſt ſein, wenn er ſie dulden wollte. Er
hört nur auf die Sittlichkeit, und ſchlägt die Sittenloſigkeit
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/91>, abgerufen am 24.11.2024.
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