Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

den und sich von dem Gelesenen Rechenschaft
zu geben. Welch eine Quelle der lehrreichsten
Selbstbeschäftigung, für den, der sie zu be-
nutzen versteht!

Selbst jene unbestimmten Karaktere, die
sich an Alles anschließen und durch nichts ge-
fesselt werden, die heute verabscheuen was sie
morgen entzückt, die sich überall und nirgend
gefallen -- selbst diese finden hier ihren Stand-
punkt. Mit eben der Leichtigkeit, mit welcher
man Bekanntschaften macht, trennt man sie
wieder. Nichts ist gewöhnlicher, als Leute die-
ser Art plötzlich aus allen Zirkeln verschwin-
den zu sehn, in denen sie vorher lebten. Sie
suchen und finden dann neue, in welchen sie
sich über kurz oder lang eben so wenig gefal-
len. Niemand wird sie mit Vorwürfen ver-
folgen, oder ihnen ihren Wankelmuth fühlbar
machen, wenn sie wieder unter ihren alten
Bekannten erscheinen.

So findet hier jeder seinen Antheil am Le-
bensgenuß, von welchem Standpunkte er auch
ausgehen und welche Forderungen er auch
thun mag. Der Weltmann und der Sonder-
ling, der Stutzer und der Philosoph, der Ge-

den und ſich von dem Geleſenen Rechenſchaft
zu geben. Welch eine Quelle der lehrreichſten
Selbſtbeſchaͤftigung, fuͤr den, der ſie zu be-
nutzen verſteht!

Selbſt jene unbeſtimmten Karaktere, die
ſich an Alles anſchließen und durch nichts ge-
feſſelt werden, die heute verabſcheuen was ſie
morgen entzuͤckt, die ſich uͤberall und nirgend
gefallen — ſelbſt dieſe finden hier ihren Stand-
punkt. Mit eben der Leichtigkeit, mit welcher
man Bekanntſchaften macht, trennt man ſie
wieder. Nichts iſt gewoͤhnlicher, als Leute die-
ſer Art ploͤtzlich aus allen Zirkeln verſchwin-
den zu ſehn, in denen ſie vorher lebten. Sie
ſuchen und finden dann neue, in welchen ſie
ſich uͤber kurz oder lang eben ſo wenig gefal-
len. Niemand wird ſie mit Vorwuͤrfen ver-
folgen, oder ihnen ihren Wankelmuth fuͤhlbar
machen, wenn ſie wieder unter ihren alten
Bekannten erſcheinen.

So findet hier jeder ſeinen Antheil am Le-
bensgenuß, von welchem Standpunkte er auch
ausgehen und welche Forderungen er auch
thun mag. Der Weltmann und der Sonder-
ling, der Stutzer und der Philoſoph, der Ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0474" n="456"/>
den und &#x017F;ich von dem Gele&#x017F;enen Rechen&#x017F;chaft<lb/>
zu geben. Welch eine Quelle der lehrreich&#x017F;ten<lb/>
Selb&#x017F;tbe&#x017F;cha&#x0364;ftigung, fu&#x0364;r den, der &#x017F;ie zu be-<lb/>
nutzen ver&#x017F;teht!</p><lb/>
          <p>Selb&#x017F;t jene unbe&#x017F;timmten Karaktere, die<lb/>
&#x017F;ich an Alles an&#x017F;chließen und durch nichts ge-<lb/>
fe&#x017F;&#x017F;elt werden, die heute verab&#x017F;cheuen was &#x017F;ie<lb/>
morgen entzu&#x0364;ckt, die &#x017F;ich u&#x0364;berall und nirgend<lb/>
gefallen &#x2014; &#x017F;elb&#x017F;t die&#x017F;e finden hier ihren Stand-<lb/>
punkt. Mit eben der Leichtigkeit, mit welcher<lb/>
man Bekannt&#x017F;chaften macht, trennt man &#x017F;ie<lb/>
wieder. Nichts i&#x017F;t gewo&#x0364;hnlicher, als Leute die-<lb/>
&#x017F;er Art plo&#x0364;tzlich aus allen Zirkeln ver&#x017F;chwin-<lb/>
den zu &#x017F;ehn, in denen &#x017F;ie vorher lebten. Sie<lb/>
&#x017F;uchen und finden dann neue, in welchen &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich u&#x0364;ber kurz oder lang eben &#x017F;o wenig gefal-<lb/>
len. Niemand wird &#x017F;ie mit Vorwu&#x0364;rfen ver-<lb/>
folgen, oder ihnen ihren Wankelmuth fu&#x0364;hlbar<lb/>
machen, wenn &#x017F;ie wieder unter ihren alten<lb/>
Bekannten er&#x017F;cheinen.</p><lb/>
          <p>So findet hier jeder &#x017F;einen Antheil am Le-<lb/>
bensgenuß, von welchem Standpunkte er auch<lb/>
ausgehen und welche Forderungen er auch<lb/>
thun mag. Der Weltmann und der Sonder-<lb/>
ling, der Stutzer und der Philo&#x017F;oph, der Ge-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[456/0474] den und ſich von dem Geleſenen Rechenſchaft zu geben. Welch eine Quelle der lehrreichſten Selbſtbeſchaͤftigung, fuͤr den, der ſie zu be- nutzen verſteht! Selbſt jene unbeſtimmten Karaktere, die ſich an Alles anſchließen und durch nichts ge- feſſelt werden, die heute verabſcheuen was ſie morgen entzuͤckt, die ſich uͤberall und nirgend gefallen — ſelbſt dieſe finden hier ihren Stand- punkt. Mit eben der Leichtigkeit, mit welcher man Bekanntſchaften macht, trennt man ſie wieder. Nichts iſt gewoͤhnlicher, als Leute die- ſer Art ploͤtzlich aus allen Zirkeln verſchwin- den zu ſehn, in denen ſie vorher lebten. Sie ſuchen und finden dann neue, in welchen ſie ſich uͤber kurz oder lang eben ſo wenig gefal- len. Niemand wird ſie mit Vorwuͤrfen ver- folgen, oder ihnen ihren Wankelmuth fuͤhlbar machen, wenn ſie wieder unter ihren alten Bekannten erſcheinen. So findet hier jeder ſeinen Antheil am Le- bensgenuß, von welchem Standpunkte er auch ausgehen und welche Forderungen er auch thun mag. Der Weltmann und der Sonder- ling, der Stutzer und der Philoſoph, der Ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/474
Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/474>, abgerufen am 23.11.2024.