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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794.

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sellige und der Egoist, der Sykophant und der
Stoiker -- jeder trifft Wesen seiner Art, an
die er sich schließen, ein Plätzchen auf welchem
er wurzeln und unter dem Schatten der ge-
selligen Duldung Früchte treiben kann. Nur
der Unzufriedene gefällt sich nirgend.

Wir haben die hervorstechenden Seiten des
geselligen Lebens gemustert; ein Blick in
das häusliche mag dieses Sittengemälde be-
schließen. So gleichförmig der Karakter des
erstern ist, so mannigfaltig sind die Schatti-
rungen die sich in den des letztern verweben.
Nachahmungssucht und Konvenienz stimmen
vor den Augen der Welt alles auf einen glei-
chen Ton; aber im Innern der Familien ver-
liert sich dieser scheinbare Einklang, und die
wahre Denkungsart der Menschen springt
aus dem dunkeln Hintergrunde desto stärker
hervor.

Die Masse der häuslichen Glückseligkeit
und ihre Vertheilung zu berechnen, wäre wol
ein eben so gewagtes als unnützes Unterneh-
men; aber möglich und interessant ist es, bey
einem langen und ausgebreiteten Umgange die
Privatverhältnisse der Menschen ins Auge zu

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ſellige und der Egoiſt, der Sykophant und der
Stoiker — jeder trifft Weſen ſeiner Art, an
die er ſich ſchließen, ein Plaͤtzchen auf welchem
er wurzeln und unter dem Schatten der ge-
ſelligen Duldung Fruͤchte treiben kann. Nur
der Unzufriedene gefaͤllt ſich nirgend.

Wir haben die hervorſtechenden Seiten des
geſelligen Lebens gemuſtert; ein Blick in
das haͤusliche mag dieſes Sittengemaͤlde be-
ſchließen. So gleichfoͤrmig der Karakter des
erſtern iſt, ſo mannigfaltig ſind die Schatti-
rungen die ſich in den des letztern verweben.
Nachahmungsſucht und Konvenienz ſtimmen
vor den Augen der Welt alles auf einen glei-
chen Ton; aber im Innern der Familien ver-
liert ſich dieſer ſcheinbare Einklang, und die
wahre Denkungsart der Menſchen ſpringt
aus dem dunkeln Hintergrunde deſto ſtaͤrker
hervor.

Die Maſſe der haͤuslichen Gluͤckſeligkeit
und ihre Vertheilung zu berechnen, waͤre wol
ein eben ſo gewagtes als unnuͤtzes Unterneh-
men; aber moͤglich und intereſſant iſt es, bey
einem langen und ausgebreiteten Umgange die
Privatverhaͤltniſſe der Menſchen ins Auge zu

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[457/0475] ſellige und der Egoiſt, der Sykophant und der Stoiker — jeder trifft Weſen ſeiner Art, an die er ſich ſchließen, ein Plaͤtzchen auf welchem er wurzeln und unter dem Schatten der ge- ſelligen Duldung Fruͤchte treiben kann. Nur der Unzufriedene gefaͤllt ſich nirgend. Wir haben die hervorſtechenden Seiten des geſelligen Lebens gemuſtert; ein Blick in das haͤusliche mag dieſes Sittengemaͤlde be- ſchließen. So gleichfoͤrmig der Karakter des erſtern iſt, ſo mannigfaltig ſind die Schatti- rungen die ſich in den des letztern verweben. Nachahmungsſucht und Konvenienz ſtimmen vor den Augen der Welt alles auf einen glei- chen Ton; aber im Innern der Familien ver- liert ſich dieſer ſcheinbare Einklang, und die wahre Denkungsart der Menſchen ſpringt aus dem dunkeln Hintergrunde deſto ſtaͤrker hervor. Die Maſſe der haͤuslichen Gluͤckſeligkeit und ihre Vertheilung zu berechnen, waͤre wol ein eben ſo gewagtes als unnuͤtzes Unterneh- men; aber moͤglich und intereſſant iſt es, bey einem langen und ausgebreiteten Umgange die Privatverhaͤltniſſe der Menſchen ins Auge zu F f 5

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/475>, abgerufen am 23.11.2024.