bey äußerst Wenigen kann diese Denkungsart sich auf Dankbarkeit gegen das Land gründen, dem sie ihren Wohlstand schuldig sind; ein so seines Gefühl ist nicht die Aussteuer des gro- ßen Hausens.
Da es in St. Petersburg keinen herrschen- den Geist, keine Nationaldenkungsart giebt, so sind die Deutschen hier natürlich weit weniger Russen, als sie in Paris Franzosen oder in London Engländer sind; aber mehr als alle andere hier lebende Fremdlinge haben sie sich doch den Russen genähert. Die deutsche Frau vom bon Ton spricht lieber russisch als deutsch; es giebt Deutsche, die sich ihres Namens schä- men, weil sie sich fürchten, zu einer Nation gezählt zu werden, wider die das Vorurtheil spricht.
Die fremden Einwohner jeder Nation bil- den einen engern Zirkel unter sich; so auch die Deutschen. Aber jede dieser Kolonieen hat zugleich ein gemeinsames, mehr oder weniger starkes Interesse; dies haben die Deutschen nicht. Statt dieses Gemeingeists findet man bey ihnen jene kleinstädtische Theilnahme an den Schicksalen ihrer Mitbürger, die sich auf
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bey aͤußerſt Wenigen kann dieſe Denkungsart ſich auf Dankbarkeit gegen das Land gruͤnden, dem ſie ihren Wohlſtand ſchuldig ſind; ein ſo ſeines Gefuͤhl iſt nicht die Ausſteuer des gro- ßen Hauſens.
Da es in St. Petersburg keinen herrſchen- den Geiſt, keine Nationaldenkungsart giebt, ſo ſind die Deutſchen hier natuͤrlich weit weniger Ruſſen, als ſie in Paris Franzoſen oder in London Englaͤnder ſind; aber mehr als alle andere hier lebende Fremdlinge haben ſie ſich doch den Ruſſen genaͤhert. Die deutſche Frau vom bon Ton ſpricht lieber ruſſiſch als deutſch; es giebt Deutſche, die ſich ihres Namens ſchaͤ- men, weil ſie ſich fuͤrchten, zu einer Nation gezaͤhlt zu werden, wider die das Vorurtheil ſpricht.
Die fremden Einwohner jeder Nation bil- den einen engern Zirkel unter ſich; ſo auch die Deutſchen. Aber jede dieſer Kolonieen hat zugleich ein gemeinſames, mehr oder weniger ſtarkes Intereſſe; dies haben die Deutſchen nicht. Statt dieſes Gemeingeiſts findet man bey ihnen jene kleinſtaͤdtiſche Theilnahme an den Schickſalen ihrer Mitbuͤrger, die ſich auf
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bey aͤußerſt Wenigen kann dieſe Denkungsart
ſich auf Dankbarkeit gegen das Land gruͤnden,
dem ſie ihren Wohlſtand ſchuldig ſind; ein ſo
ſeines Gefuͤhl iſt nicht die Ausſteuer des gro-
ßen Hauſens.
Da es in St. Petersburg keinen herrſchen-
den Geiſt, keine Nationaldenkungsart giebt, ſo
ſind die Deutſchen hier natuͤrlich weit weniger
Ruſſen, als ſie in Paris Franzoſen oder in
London Englaͤnder ſind; aber mehr als alle
andere hier lebende Fremdlinge haben ſie ſich
doch den Ruſſen genaͤhert. Die deutſche Frau
vom bon Ton ſpricht lieber ruſſiſch als deutſch;
es giebt Deutſche, die ſich ihres Namens ſchaͤ-
men, weil ſie ſich fuͤrchten, zu einer Nation
gezaͤhlt zu werden, wider die das Vorurtheil
ſpricht.
Die fremden Einwohner jeder Nation bil-
den einen engern Zirkel unter ſich; ſo auch die
Deutſchen. Aber jede dieſer Kolonieen hat
zugleich ein gemeinſames, mehr oder weniger
ſtarkes Intereſſe; dies haben die Deutſchen
nicht. Statt dieſes Gemeingeiſts findet man
bey ihnen jene kleinſtaͤdtiſche Theilnahme an
den Schickſalen ihrer Mitbuͤrger, die ſich auf
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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/507>, abgerufen am 19.05.2024.
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