Ehrlichkeit, zeichnen dieses Volk auch hier auf eine sehr ehrenhafte Weise aus. Es giebt kein noch so mühsames Geschäfte, in welchem die Deutschen hier nicht etwas geleistet hätten; in den mehresten Gewerben, Wissenschaften und Künsten sind sie die Lehrer der Russen gewesen und sind es zum Theil noch. -- Ihre Ehrlichkeit freylich wird hier durch Bey- spiel und Interesse so oft in Versuchung ge- führt, daß sie zuweilen unterliegt; aber noch ist der Ruf dieser alten deutschen Tugend un- ter uns nicht verloren gegangen, und noch sind die Fälle nicht selten, da sich dieser Ruf auf eine sehr merkwürdige Art bewährt. Fol- gende, in den kleinsten Umständen wahre Ge- schichte ist von dieser und von mehreren an- dern Seiten so karakteristisch, daß ich es als keine Abweichung von meinem Zwecke ansehen kann, wenn ich ihr hier den kleinen Platz gönne, den sie einnimmt.
In der kleinen Kreisstadt Oranienbaum lebt eine Frau von neunzig Jahren, aus Holl- stein gebürtig. Ein kleines Häuschen ist ihr ganzer Besitz, und der Besuch einiger Schiffer,
Ehrlichkeit, zeichnen dieſes Volk auch hier auf eine ſehr ehrenhafte Weiſe aus. Es giebt kein noch ſo muͤhſames Geſchaͤfte, in welchem die Deutſchen hier nicht etwas geleiſtet haͤtten; in den mehreſten Gewerben, Wiſſenſchaften und Kuͤnſten ſind ſie die Lehrer der Ruſſen geweſen und ſind es zum Theil noch. — Ihre Ehrlichkeit freylich wird hier durch Bey- ſpiel und Intereſſe ſo oft in Verſuchung ge- fuͤhrt, daß ſie zuweilen unterliegt; aber noch iſt der Ruf dieſer alten deutſchen Tugend un- ter uns nicht verloren gegangen, und noch ſind die Faͤlle nicht ſelten, da ſich dieſer Ruf auf eine ſehr merkwuͤrdige Art bewaͤhrt. Fol- gende, in den kleinſten Umſtaͤnden wahre Ge- ſchichte iſt von dieſer und von mehreren an- dern Seiten ſo karakteriſtiſch, daß ich es als keine Abweichung von meinem Zwecke anſehen kann, wenn ich ihr hier den kleinen Platz goͤnne, den ſie einnimmt.
In der kleinen Kreisſtadt Oranienbaum lebt eine Frau von neunzig Jahren, aus Holl- ſtein gebuͤrtig. Ein kleines Haͤuschen iſt ihr ganzer Beſitz, und der Beſuch einiger Schiffer,
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[491/0509]
Ehrlichkeit, zeichnen dieſes Volk auch hier
auf eine ſehr ehrenhafte Weiſe aus. Es giebt
kein noch ſo muͤhſames Geſchaͤfte, in welchem
die Deutſchen hier nicht etwas geleiſtet haͤtten;
in den mehreſten Gewerben, Wiſſenſchaften
und Kuͤnſten ſind ſie die Lehrer der Ruſſen
geweſen und ſind es zum Theil noch. —
Ihre Ehrlichkeit freylich wird hier durch Bey-
ſpiel und Intereſſe ſo oft in Verſuchung ge-
fuͤhrt, daß ſie zuweilen unterliegt; aber noch
iſt der Ruf dieſer alten deutſchen Tugend un-
ter uns nicht verloren gegangen, und noch
ſind die Faͤlle nicht ſelten, da ſich dieſer Ruf
auf eine ſehr merkwuͤrdige Art bewaͤhrt. Fol-
gende, in den kleinſten Umſtaͤnden wahre Ge-
ſchichte iſt von dieſer und von mehreren an-
dern Seiten ſo karakteriſtiſch, daß ich es als
keine Abweichung von meinem Zwecke anſehen
kann, wenn ich ihr hier den kleinen Platz
goͤnne, den ſie einnimmt.
In der kleinen Kreisſtadt Oranienbaum
lebt eine Frau von neunzig Jahren, aus Holl-
ſtein gebuͤrtig. Ein kleines Haͤuschen iſt ihr
ganzer Beſitz, und der Beſuch einiger Schiffer,
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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/509>, abgerufen am 24.11.2024.
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