leben in sehr verschiedenen und gemischten Zir- keln, aber noch nicht ein einziges Mal habe ich diese oder ähnliche Fragen gehört: "Ist der Mann aus einer guten Familie? Ist er von Adel? Wer war sein Vater? Was war er, ehe er diesen Posten bekam?" -- Nir- gend hat persönliches -- wirkliches oder er- borgtes -- Verdienst größern Anspruch auf Achtung; nirgend ist es schwerer, durch die Talente und Tugenden seiner Vorfahren zu glänzen, als hier. Und eben dieses Publi- kum, welches sich durch eine so aufgeklärte Denkungsart auszeichnet -- ist der Sklave eines andern Vorurtheils, dessen Fesseln so viel leichter abzuwerfen wären! Die Peters- burger hierüber anklagen, hieße die menschliche Natur zur Rechenschaft ziehen. Die Men- schen handeln und denken überall nach gewis- sen Bestimmungen, wenn sie sich derselben gleich nicht allemal bewußt sind. Oft sehen wir die Wirkung ohne die Ursache, wenn diese vielleicht zu tief liegt, und dann nennen wir jene einen Widerspruch, weil wir ihre Verket- tung nicht kennen. Wer alle Fäden der mora- lischen Erscheinungen übersehen und jeden ver-
Zweiter Theil. K k
leben in ſehr verſchiedenen und gemiſchten Zir- keln, aber noch nicht ein einziges Mal habe ich dieſe oder aͤhnliche Fragen gehoͤrt: „Iſt der Mann aus einer guten Familie? Iſt er von Adel? Wer war ſein Vater? Was war er, ehe er dieſen Poſten bekam?“ — Nir- gend hat perſoͤnliches — wirkliches oder er- borgtes — Verdienſt groͤßern Anſpruch auf Achtung; nirgend iſt es ſchwerer, durch die Talente und Tugenden ſeiner Vorfahren zu glaͤnzen, als hier. Und eben dieſes Publi- kum, welches ſich durch eine ſo aufgeklaͤrte Denkungsart auszeichnet — iſt der Sklave eines andern Vorurtheils, deſſen Feſſeln ſo viel leichter abzuwerfen waͤren! Die Peters- burger hieruͤber anklagen, hieße die menſchliche Natur zur Rechenſchaft ziehen. Die Men- ſchen handeln und denken uͤberall nach gewiſ- ſen Beſtimmungen, wenn ſie ſich derſelben gleich nicht allemal bewußt ſind. Oft ſehen wir die Wirkung ohne die Urſache, wenn dieſe vielleicht zu tief liegt, und dann nennen wir jene einen Widerſpruch, weil wir ihre Verket- tung nicht kennen. Wer alle Faͤden der mora- liſchen Erſcheinungen uͤberſehen und jeden ver-
Zweiter Theil. K k
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leben in ſehr verſchiedenen und gemiſchten Zir-
keln, aber noch nicht ein einziges Mal habe
ich dieſe oder aͤhnliche Fragen gehoͤrt: „Iſt
der Mann aus einer guten Familie? Iſt er
von Adel? Wer war ſein Vater? Was war
er, ehe er dieſen Poſten bekam?“ — Nir-
gend hat perſoͤnliches — wirkliches oder er-
borgtes — Verdienſt groͤßern Anſpruch auf
Achtung; nirgend iſt es ſchwerer, durch die
Talente und Tugenden ſeiner Vorfahren zu
glaͤnzen, als hier. Und eben dieſes Publi-
kum, welches ſich durch eine ſo aufgeklaͤrte
Denkungsart auszeichnet — iſt der Sklave
eines andern Vorurtheils, deſſen Feſſeln ſo
viel leichter abzuwerfen waͤren! Die Peters-
burger hieruͤber anklagen, hieße die menſchliche
Natur zur Rechenſchaft ziehen. Die Men-
ſchen handeln und denken uͤberall nach gewiſ-
ſen Beſtimmungen, wenn ſie ſich derſelben
gleich nicht allemal bewußt ſind. Oft ſehen
wir die Wirkung ohne die Urſache, wenn dieſe
vielleicht zu tief liegt, und dann nennen wir
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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/531>, abgerufen am 26.11.2024.
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