aber gerade der so ganz jüdisch gebildete Verfasser des ersten Evangeliums, oder der Genealogie insbesondere, ei- nen solchen Verstoss begangen haben sollte, kann man nicht wahrscheinlich finden, wesswegen z. B. Schleiermacher dem Geiste der beiden Evangelisten gemäss annehmen zu müssen glaubt, dass Matthäus, unerachtet seines egennese, doch nach jüdischem Brauche den Stammbaum des gesetz- lichen Vaters gebe, Lukas aber, vielleicht kein geborener Jude und der jüdischen Gewohnheiten minder kundig, ha- be die Stammtafel der jüngeren Brüder Josephs zur Hand bekommen, welche nicht, wie der Erstgeborene, auf das Geschlecht des verstorbenen gesetzlichen, sondern des na- türlichen Vaters geschrieben wurden, und diese habe er nun auch für die Stammtafel des Erstgeborenen, Joseph, gehalten, was sie nur nach dem natürlichen Momente war, auf welches aber die jüdische Genealogistik keine Rück- sicht nahm 7). Allein abgesehen von dem erst unten zu Erweisenden, dass die Genealogie bei Lukas schwerlich vom Verf. des Evangeliums herrührt, also aus dessen minder jüdischer Bildung kein Schluss auf die Deutung des von ihm aufgenommenen Geschlechtsregisters gilt: so würde der Genealogist im ersten Evangelium sein egennese nicht so oh- ne allen Beisatz hingeschrieben haben, wenn er an ein blos gesetzlicher Vaterverhältniss gedacht hätte; wesswegen die beiden Ansichten von dem Verhältniss der Genealogieen in dieser Beziehung gleich schwierig sind.
Indess, wir müssen uns diese, bis jetzt nur im Allge- meinen bezeichnete Hypothese erst näher vor die Vorstel- lung bringen, um über ihre Zulässigkeit urtheilen zu kön- nen. Da in Bezug auf die Voraussetzung der Leviratsehe Verfahren und Ergebniss im Ganzen dasselbe bleibt, ob wir mit Augustin und Julius dem Matthäus, oder mit Schleier-
7) a. a. O. S. 53. Vgl. Winer, bibl. Realwörterbuch 1. Band. S. 660.
Zweites Kapitel. §. 17.
aber gerade der so ganz jüdisch gebildete Verfasser des ersten Evangeliums, oder der Genealogie insbesondere, ei- nen solchen Verstoſs begangen haben sollte, kann man nicht wahrscheinlich finden, weſswegen z. B. Schleiermacher dem Geiste der beiden Evangelisten gemäſs annehmen zu müssen glaubt, daſs Matthäus, unerachtet seines ἐγἐννησε, doch nach jüdischem Brauche den Stammbaum des gesetz- lichen Vaters gebe, Lukas aber, vielleicht kein geborener Jude und der jüdischen Gewohnheiten minder kundig, ha- be die Stammtafel der jüngeren Brüder Josephs zur Hand bekommen, welche nicht, wie der Erstgeborene, auf das Geschlecht des verstorbenen gesetzlichen, sondern des na- türlichen Vaters geschrieben wurden, und diese habe er nun auch für die Stammtafel des Erstgeborenen, Joseph, gehalten, was sie nur nach dem natürlichen Momente war, auf welches aber die jüdische Genealogistik keine Rück- sicht nahm 7). Allein abgesehen von dem erst unten zu Erweisenden, daſs die Genealogie bei Lukas schwerlich vom Verf. des Evangeliums herrührt, also aus dessen minder jüdischer Bildung kein Schluſs auf die Deutung des von ihm aufgenommenen Geschlechtsregisters gilt: so würde der Genealogist im ersten Evangelium sein ἐγέννησε nicht so oh- ne allen Beisatz hingeschrieben haben, wenn er an ein blos gesetzlicher Vaterverhältniſs gedacht hätte; weſswegen die beiden Ansichten von dem Verhältniſs der Genealogieen in dieser Beziehung gleich schwierig sind.
Indeſs, wir müssen uns diese, bis jetzt nur im Allge- meinen bezeichnete Hypothese erst näher vor die Vorstel- lung bringen, um über ihre Zulässigkeit urtheilen zu kön- nen. Da in Bezug auf die Voraussetzung der Leviratsehe Verfahren und Ergebniſs im Ganzen dasselbe bleibt, ob wir mit Augustin und Julius dem Matthäus, oder mit Schleier-
7) a. a. O. S. 53. Vgl. Winer, bibl. Realwörterbuch 1. Band. S. 660.
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Zweites Kapitel. §. 17.
aber gerade der so ganz jüdisch gebildete Verfasser des
ersten Evangeliums, oder der Genealogie insbesondere, ei-
nen solchen Verstoſs begangen haben sollte, kann man nicht
wahrscheinlich finden, weſswegen z. B. Schleiermacher
dem Geiste der beiden Evangelisten gemäſs annehmen zu
müssen glaubt, daſs Matthäus, unerachtet seines ἐγἐννησε,
doch nach jüdischem Brauche den Stammbaum des gesetz-
lichen Vaters gebe, Lukas aber, vielleicht kein geborener
Jude und der jüdischen Gewohnheiten minder kundig, ha-
be die Stammtafel der jüngeren Brüder Josephs zur Hand
bekommen, welche nicht, wie der Erstgeborene, auf das
Geschlecht des verstorbenen gesetzlichen, sondern des na-
türlichen Vaters geschrieben wurden, und diese habe er
nun auch für die Stammtafel des Erstgeborenen, Joseph,
gehalten, was sie nur nach dem natürlichen Momente war,
auf welches aber die jüdische Genealogistik keine Rück-
sicht nahm 7). Allein abgesehen von dem erst unten zu
Erweisenden, daſs die Genealogie bei Lukas schwerlich vom
Verf. des Evangeliums herrührt, also aus dessen minder
jüdischer Bildung kein Schluſs auf die Deutung des von
ihm aufgenommenen Geschlechtsregisters gilt: so würde der
Genealogist im ersten Evangelium sein ἐγέννησε nicht so oh-
ne allen Beisatz hingeschrieben haben, wenn er an ein
blos gesetzlicher Vaterverhältniſs gedacht hätte; weſswegen
die beiden Ansichten von dem Verhältniſs der Genealogieen
in dieser Beziehung gleich schwierig sind.
Indeſs, wir müssen uns diese, bis jetzt nur im Allge-
meinen bezeichnete Hypothese erst näher vor die Vorstel-
lung bringen, um über ihre Zulässigkeit urtheilen zu kön-
nen. Da in Bezug auf die Voraussetzung der Leviratsehe
Verfahren und Ergebniſs im Ganzen dasselbe bleibt, ob
wir mit Augustin und Julius dem Matthäus, oder mit Schleier-
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S. 660.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/143>, abgerufen am 16.02.2025.
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