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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Drittes Kapitel. §. 20.
Josephs Benehmen zu schliessen, nicht gethan zu haben
scheint: so bleibt nur die Annahme übrig, dass jene, in
erhöhtem Gemüthszustande ihr zu Theil gewordene geheim-
nissvolle Eröffnung nachher wieder aus ihrem Gedächtnisse
verschwand, und sie selbst die wahre Ursache ihrer Schwan-
gerschaft nicht kannte 5); wobei sich freilich sogleich die
Fragen aufdrängen, wozu dann die Erscheinung dienen
sollte, und woher dem Evangelisten die Kunde von dersel-
ben kam? Fragen, welche übrigens auf supranaturalisti-
schem Boden auch nicht unbeantwortlich sind. In der That
bleibt auf diesem Standpunkt für den gegenwärtigen Fall
kaum etwas Andres übrig, als sich in das Wunderbare
und Unbegreifliche zu flüchten; denn die Versuche, welche
neuere Theologen desselben Standpunktes gemacht haben,
das Schweigen der Maria gegen Joseph zu erklären, und
sogar noch einen vortrefflichen Charakterzug darin zu fin-
den, sind ebenso kecke als missrathene Bemühungen, aus
der Noth eine Tugend zu machen. Nach Hess 6) muss es
die Maria nicht wenig Selbstverleugnung gekostet haben,
dem Joseph die Mittheilung des Engels zu verschweigen,
und man muss diese Zurückhaltung für ein Zeichen ihres
starken Vertrauens auf Gott in dieser nur ihr und ihm be-
kannten Angelegenheit halten. Nicht umsonst nämlich,
dachte sie ohne Zweifel, ist diese Erscheinung nur mir al-
lein zu Theil geworden; sollte auch Joseph schon jetzt da-
von erfahren, so würde der Engel auch ihm erschienen
sein (wollte Jeder, dem eine höhere Offenbarung zu Theil
wird, so denken, wie vieler besonderen Offenbarungen be-

5) Protev. Jac. c. 12: Mariam de epelatheto ton muserion
o n eipe pros auten Gabriel. Als sie daher von Joseph
zur Rede gestellt wird, versichert sie ihn mit Thränen:
ou ginosko, pothen esi touto to en te gasri mou. c. 13.
6) Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu u. s. w. 1. Thl.
S. 36.

Drittes Kapitel. §. 20.
Josephs Benehmen zu schlieſsen, nicht gethan zu haben
scheint: so bleibt nur die Annahme übrig, daſs jene, in
erhöhtem Gemüthszustande ihr zu Theil gewordene geheim-
niſsvolle Eröffnung nachher wieder aus ihrem Gedächtnisse
verschwand, und sie selbst die wahre Ursache ihrer Schwan-
gerschaft nicht kannte 5); wobei sich freilich sogleich die
Fragen aufdrängen, wozu dann die Erscheinung dienen
sollte, und woher dem Evangelisten die Kunde von dersel-
ben kam? Fragen, welche übrigens auf supranaturalisti-
schem Boden auch nicht unbeantwortlich sind. In der That
bleibt auf diesem Standpunkt für den gegenwärtigen Fall
kaum etwas Andres übrig, als sich in das Wunderbare
und Unbegreifliche zu flüchten; denn die Versuche, welche
neuere Theologen desselben Standpunktes gemacht haben,
das Schweigen der Maria gegen Joseph zu erklären, und
sogar noch einen vortrefflichen Charakterzug darin zu fin-
den, sind ebenso kecke als miſsrathene Bemühungen, aus
der Noth eine Tugend zu machen. Nach Hess 6) muſs es
die Maria nicht wenig Selbstverleugnung gekostet haben,
dem Joseph die Mittheilung des Engels zu verschweigen,
und man muſs diese Zurückhaltung für ein Zeichen ihres
starken Vertrauens auf Gott in dieser nur ihr und ihm be-
kannten Angelegenheit halten. Nicht umsonst nämlich,
dachte sie ohne Zweifel, ist diese Erscheinung nur mir al-
lein zu Theil geworden; sollte auch Joseph schon jetzt da-
von erfahren, so würde der Engel auch ihm erschienen
sein (wollte Jeder, dem eine höhere Offenbarung zu Theil
wird, so denken, wie vieler besonderen Offenbarungen be-

5) Protev. Jac. c. 12: Μαριὰμ δὲ ἐπελάϑετο τῶν μυςηρίων
ω ν εἶπε πρὸς ἀυτὴν Γαβριήλ. Als sie daher von Joseph
zur Rede gestellt wird, versichert sie ihn mit Thränen:
οὐ γινώσκω, πόϑεν ἐςὶ τοῦτο τὸ ἐν τῇ γαςρί μου. c. 13.
6) Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu u. s. w. 1. Thl.
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[137/0161] Drittes Kapitel. §. 20. Josephs Benehmen zu schlieſsen, nicht gethan zu haben scheint: so bleibt nur die Annahme übrig, daſs jene, in erhöhtem Gemüthszustande ihr zu Theil gewordene geheim- niſsvolle Eröffnung nachher wieder aus ihrem Gedächtnisse verschwand, und sie selbst die wahre Ursache ihrer Schwan- gerschaft nicht kannte 5); wobei sich freilich sogleich die Fragen aufdrängen, wozu dann die Erscheinung dienen sollte, und woher dem Evangelisten die Kunde von dersel- ben kam? Fragen, welche übrigens auf supranaturalisti- schem Boden auch nicht unbeantwortlich sind. In der That bleibt auf diesem Standpunkt für den gegenwärtigen Fall kaum etwas Andres übrig, als sich in das Wunderbare und Unbegreifliche zu flüchten; denn die Versuche, welche neuere Theologen desselben Standpunktes gemacht haben, das Schweigen der Maria gegen Joseph zu erklären, und sogar noch einen vortrefflichen Charakterzug darin zu fin- den, sind ebenso kecke als miſsrathene Bemühungen, aus der Noth eine Tugend zu machen. Nach Hess 6) muſs es die Maria nicht wenig Selbstverleugnung gekostet haben, dem Joseph die Mittheilung des Engels zu verschweigen, und man muſs diese Zurückhaltung für ein Zeichen ihres starken Vertrauens auf Gott in dieser nur ihr und ihm be- kannten Angelegenheit halten. Nicht umsonst nämlich, dachte sie ohne Zweifel, ist diese Erscheinung nur mir al- lein zu Theil geworden; sollte auch Joseph schon jetzt da- von erfahren, so würde der Engel auch ihm erschienen sein (wollte Jeder, dem eine höhere Offenbarung zu Theil wird, so denken, wie vieler besonderen Offenbarungen be- 5) Protev. Jac. c. 12: Μαριὰμ δὲ ἐπελάϑετο τῶν μυςηρίων ω ν εἶπε πρὸς ἀυτὴν Γαβριήλ. Als sie daher von Joseph zur Rede gestellt wird, versichert sie ihn mit Thränen: οὐ γινώσκω, πόϑεν ἐςὶ τοῦτο τὸ ἐν τῇ γαςρί μου. c. 13. 6) Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu u. s. w. 1. Thl. S. 36.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/161>, abgerufen am 21.11.2024.