Wer daher die Maria nicht auf eine Weise handeln lassen will, wie unsre Evangelisten gewiss nicht voraus- setzen, dass sie gehandelt habe, der muss geradezu anneh- men, sie habe die Engelsbotschaft sogleich nach Erhalt derselben ihrem Bräutigam mitgetheilt, dieser aber habe ihr keinen vollen Glauben geschenkt. -- Allein nun sehe man zu, wie man mit dem Charakter des Joseph zurecht- kommen möge! Auch Hess ist der Meinung, so wie Jo- seph die Maria kennen musste, hätte er keine Ursache ge- habt, einen Zweifel in ihre Aussage zu setzen, wenn sie ihm die gehabte Erscheinung mittheilte 9). That er es doch, so scheint diess ein Misstrauen gegen seine Verlobte vorauszusetzen, das mit seinem Charakter als aner dikaios (Matth. 1, 19.), und einen Unglauben an das Wunderbare, der mit seiner sonstigen Geneigtheit, auf Engelerscheinun- gen einzugehen, schwer vereinbar ist, und ihm auf keinen Fall bei der später ihm selbst zu Theil gewordnen Erschei- nung so ganz ungeahndet hingegangen wäre.
Da somit unvermeidlich etwas dem Sinne unsrer Evan- gelisten, sofern sie offenbar den Joseph wie die Maria als reine Charaktere halten wollen, Unangemessenes sich er- giebt, wenn man ihre Erzählungen einander gegenseitig voraussetzen und ergänzen lässt: so darf eben diess nicht angenommen werden, sondern ihre Berichte schlies- sen einander aus. Nicht ist sowohl der Maria zuerst, als auch dem Joseph hernach der Engel erschienen, son- dern nur entweder dem einen oder dem andern Theil kann er erschienen sein, hiemit aber auch nur die eine oder die andre Relation für historisch angesehen werden. Hier könnte man sich nun nach verschiedenen Rücksichten für die eine oder andere Erzählung entscheiden: man könnte von rationalistischem Standpunkte aus die Erzäh- lung des Matthäus wahrscheinlicher finden, weil sich die
9) a. a. O.
Erster Abschnitt.
Wer daher die Maria nicht auf eine Weise handeln lassen will, wie unsre Evangelisten gewiſs nicht voraus- setzen, daſs sie gehandelt habe, der muſs geradezu anneh- men, sie habe die Engelsbotschaft sogleich nach Erhalt derselben ihrem Bräutigam mitgetheilt, dieser aber habe ihr keinen vollen Glauben geschenkt. — Allein nun sehe man zu, wie man mit dem Charakter des Joseph zurecht- kommen möge! Auch Hess ist der Meinung, so wie Jo- seph die Maria kennen muſste, hätte er keine Ursache ge- habt, einen Zweifel in ihre Aussage zu setzen, wenn sie ihm die gehabte Erscheinung mittheilte 9). That er es doch, so scheint dieſs ein Miſstrauen gegen seine Verlobte vorauszusetzen, das mit seinem Charakter als ἀνὴρ δίκαιος (Matth. 1, 19.), und einen Unglauben an das Wunderbare, der mit seiner sonstigen Geneigtheit, auf Engelerscheinun- gen einzugehen, schwer vereinbar ist, und ihm auf keinen Fall bei der später ihm selbst zu Theil gewordnen Erschei- nung so ganz ungeahndet hingegangen wäre.
Da somit unvermeidlich etwas dem Sinne unsrer Evan- gelisten, sofern sie offenbar den Joseph wie die Maria als reine Charaktere halten wollen, Unangemessenes sich er- giebt, wenn man ihre Erzählungen einander gegenseitig voraussetzen und ergänzen läſst: so darf eben dieſs nicht angenommen werden, sondern ihre Berichte schlies- sen einander aus. Nicht ist sowohl der Maria zuerst, als auch dem Joseph hernach der Engel erschienen, son- dern nur entweder dem einen oder dem andern Theil kann er erschienen sein, hiemit aber auch nur die eine oder die andre Relation für historisch angesehen werden. Hier könnte man sich nun nach verschiedenen Rücksichten für die eine oder andere Erzählung entscheiden: man könnte von rationalistischem Standpunkte aus die Erzäh- lung des Matthäus wahrscheinlicher finden, weil sich die
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Erster Abschnitt.
Wer daher die Maria nicht auf eine Weise handeln
lassen will, wie unsre Evangelisten gewiſs nicht voraus-
setzen, daſs sie gehandelt habe, der muſs geradezu anneh-
men, sie habe die Engelsbotschaft sogleich nach Erhalt
derselben ihrem Bräutigam mitgetheilt, dieser aber habe
ihr keinen vollen Glauben geschenkt. — Allein nun sehe
man zu, wie man mit dem Charakter des Joseph zurecht-
kommen möge! Auch Hess ist der Meinung, so wie Jo-
seph die Maria kennen muſste, hätte er keine Ursache ge-
habt, einen Zweifel in ihre Aussage zu setzen, wenn sie
ihm die gehabte Erscheinung mittheilte 9). That er es
doch, so scheint dieſs ein Miſstrauen gegen seine Verlobte
vorauszusetzen, das mit seinem Charakter als ἀνὴρ δίκαιος
(Matth. 1, 19.), und einen Unglauben an das Wunderbare,
der mit seiner sonstigen Geneigtheit, auf Engelerscheinun-
gen einzugehen, schwer vereinbar ist, und ihm auf keinen
Fall bei der später ihm selbst zu Theil gewordnen Erschei-
nung so ganz ungeahndet hingegangen wäre.
Da somit unvermeidlich etwas dem Sinne unsrer Evan-
gelisten, sofern sie offenbar den Joseph wie die Maria als
reine Charaktere halten wollen, Unangemessenes sich er-
giebt, wenn man ihre Erzählungen einander gegenseitig
voraussetzen und ergänzen läſst: so darf eben dieſs
nicht angenommen werden, sondern ihre Berichte schlies-
sen einander aus. Nicht ist sowohl der Maria zuerst,
als auch dem Joseph hernach der Engel erschienen, son-
dern nur entweder dem einen oder dem andern Theil
kann er erschienen sein, hiemit aber auch nur die eine
oder die andre Relation für historisch angesehen werden.
Hier könnte man sich nun nach verschiedenen Rücksichten
für die eine oder andere Erzählung entscheiden: man
könnte von rationalistischem Standpunkte aus die Erzäh-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/164>, abgerufen am 16.02.2025.
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