gesetzten Zustand einzugestehen. Allein wer von dem Gött- lichen in der Sache so fest überzeugt war und sich in die geheimnissvolle Bestimmung bereits so verständig gefunden hatte, wie Maria (Luc. 1, 38.), dem konnte durch klein- lichte Rücksichten falscher Scham die Zunge unmöglich ge- bunden sein.
Daher haben sich die natürlichen Erklärer, um den Charakter der Maria zu retten, ohne jedoch dem des Jo- seph zu nahe zu treten, bewogen gefunden, eine von Ma- ria dem Joseph gemachte Mittheilung, wiewohl verspätet, um seinen Unglauben erklärlich zu finden, vorauszusetzen. Ähnlich wie das zuletzt genannte Apokryphum zogen sie eine Reise, aber nicht des Joseph, sondern die von Lukas gemeldete der Maria zu Elisabet, herein, um die Verzöge- rung der Mittheilung zu erklären. Vor dieser Reise, meint Paulus, entdeckte sich Maria dem Joseph nicht; wahr- scheinlich wollte sie sich erst mit der älteren Freundin be- sprechen, wie sie sich demselben eröffnen solle, und ob sie, als Mutter des Messias, sich überhaupt verheurathen dürfe? Erst als sie zurückkommt, lässt sie, vermuthlich durch Andere, dem Joseph bedeuten, wie es um sie stehe, und was sie für Verheissungen empfangen habe. Den Jo- seph aber fand dieser erste Eindruck nicht gehörig gestimmt und vorbereitet; er gieng mit allerlei Gedanken um, schwank- te zwischen Verdacht und Hoffnung, bis endlich ein Traum entscheidend wurde 8). -- Allein ein so verspätetes Ge- ständniss kann die Maria nicht rechtfertigen. Welches Be- tragen einer Verlobten, nach einer den Bräutigam so nahe angehenden höheren Mittheilung in einer so delicaten Sa- che -- viele Meilen weit zu verreisen, drei Monate aus- zubleiben, und hierauf erst durch dritte Personen dem Bräutigam das nicht mehr zu Verheimlichende zustecken zu lassen!
8)Paulus exeg. Handb. 1, a, S. 121. 145.
Drittes Kapitel. §. 20.
gesetzten Zustand einzugestehen. Allein wer von dem Gött- lichen in der Sache so fest überzeugt war und sich in die geheimniſsvolle Bestimmung bereits so verständig gefunden hatte, wie Maria (Luc. 1, 38.), dem konnte durch klein- lichte Rücksichten falscher Scham die Zunge unmöglich ge- bunden sein.
Daher haben sich die natürlichen Erklärer, um den Charakter der Maria zu retten, ohne jedoch dem des Jo- seph zu nahe zu treten, bewogen gefunden, eine von Ma- ria dem Joseph gemachte Mittheilung, wiewohl verspätet, um seinen Unglauben erklärlich zu finden, vorauszusetzen. Ähnlich wie das zuletzt genannte Apokryphum zogen sie eine Reise, aber nicht des Joseph, sondern die von Lukas gemeldete der Maria zu Elisabet, herein, um die Verzöge- rung der Mittheilung zu erklären. Vor dieser Reise, meint Paulus, entdeckte sich Maria dem Joseph nicht; wahr- scheinlich wollte sie sich erst mit der älteren Freundin be- sprechen, wie sie sich demselben eröffnen solle, und ob sie, als Mutter des Messias, sich überhaupt verheurathen dürfe? Erst als sie zurückkommt, läſst sie, vermuthlich durch Andere, dem Joseph bedeuten, wie es um sie stehe, und was sie für Verheiſsungen empfangen habe. Den Jo- seph aber fand dieser erste Eindruck nicht gehörig gestimmt und vorbereitet; er gieng mit allerlei Gedanken um, schwank- te zwischen Verdacht und Hoffnung, bis endlich ein Traum entscheidend wurde 8). — Allein ein so verspätetes Ge- ständniſs kann die Maria nicht rechtfertigen. Welches Be- tragen einer Verlobten, nach einer den Bräutigam so nahe angehenden höheren Mittheilung in einer so delicaten Sa- che — viele Meilen weit zu verreisen, drei Monate aus- zubleiben, und hierauf erst durch dritte Personen dem Bräutigam das nicht mehr zu Verheimlichende zustecken zu lassen!
8)Paulus exeg. Handb. 1, a, S. 121. 145.
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Drittes Kapitel. §. 20.
gesetzten Zustand einzugestehen. Allein wer von dem Gött-
lichen in der Sache so fest überzeugt war und sich in die
geheimniſsvolle Bestimmung bereits so verständig gefunden
hatte, wie Maria (Luc. 1, 38.), dem konnte durch klein-
lichte Rücksichten falscher Scham die Zunge unmöglich ge-
bunden sein.
Daher haben sich die natürlichen Erklärer, um den
Charakter der Maria zu retten, ohne jedoch dem des Jo-
seph zu nahe zu treten, bewogen gefunden, eine von Ma-
ria dem Joseph gemachte Mittheilung, wiewohl verspätet,
um seinen Unglauben erklärlich zu finden, vorauszusetzen.
Ähnlich wie das zuletzt genannte Apokryphum zogen sie
eine Reise, aber nicht des Joseph, sondern die von Lukas
gemeldete der Maria zu Elisabet, herein, um die Verzöge-
rung der Mittheilung zu erklären. Vor dieser Reise, meint
Paulus, entdeckte sich Maria dem Joseph nicht; wahr-
scheinlich wollte sie sich erst mit der älteren Freundin be-
sprechen, wie sie sich demselben eröffnen solle, und ob
sie, als Mutter des Messias, sich überhaupt verheurathen
dürfe? Erst als sie zurückkommt, läſst sie, vermuthlich
durch Andere, dem Joseph bedeuten, wie es um sie stehe,
und was sie für Verheiſsungen empfangen habe. Den Jo-
seph aber fand dieser erste Eindruck nicht gehörig gestimmt
und vorbereitet; er gieng mit allerlei Gedanken um, schwank-
te zwischen Verdacht und Hoffnung, bis endlich ein Traum
entscheidend wurde 8). — Allein ein so verspätetes Ge-
ständniſs kann die Maria nicht rechtfertigen. Welches Be-
tragen einer Verlobten, nach einer den Bräutigam so nahe
angehenden höheren Mittheilung in einer so delicaten Sa-
che — viele Meilen weit zu verreisen, drei Monate aus-
zubleiben, und hierauf erst durch dritte Personen dem
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zu lassen!
8) Paulus exeg. Handb. 1, a, S. 121. 145.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/163>, abgerufen am 21.11.2024.
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