Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Viertes Kapitel. §. 29. braucht, dass die Hirten, welchen angeblich die Engel er-schienen, Eigenthümer des Stalles, in welchem Maria ge- bar, gewesen sein sollen. Was das Erste betrifft, mit wel- chem das Andere von selbst hinfällt, so beruht es auf der- selben Maschinerie, durch welche Lukas mittelst der Schat- zung die Eltern Jesu von Nazaret nach Bethlehem in Be- wegung setzt. Nun wissen wir aber, wie es mit dieser Schatzung steht: sie fällt ohne Rettung vor der Kritik da- hin, und mit ihr das auf sie gebaute Datum, dass Jesus in einem Hirtenstalle geboren worden. Denn waren Jesu Eltern zu Bethlehem nicht fremd, und kamen sie nicht ge- rade bei einem grossen Zusammenfluss von Fremden, wie er aus Gelegenheit eines Census stattfinden konnte, dahin: so ist kein Anlass dazu mehr vorhanden, dass Maria einen Stall zum Lokal ihrer Entbindung nehmen musste. Aber ebenso stimmt andrerseits der Zug, dass Jesus in einem Stalle geboren und zuerst von Hirten begrüsst worden sein soll, mit dem Geist der alten Sage so ganz überein, dass es klar ist, wie sie veranlasst sein konnte, ihn rein zu er- dichten. Schon Theophylakt deutet diess richtig an, wenn er sagt, nicht zu Jerusalem den Pharisäern und Schriftge- lehrten, welche aller Bosheit voll waren, sei der Engel er- schienen, sondern auf dem Felde den Hirten, wegen ihres einfachen, arglosen Wesens, und weil sie durch ihre Le- bensweise Nachfolger der alten Patriarchen gewesen seien 22). Auf dem Felde bei den Heerden hatte auch Moses die himm- lische Erscheinung (2. Mos. 3, 1 ff.), und den Ahnherrn des Messias, David, hatte Gott, nach Ps. 78, 70 f. (vergl. 1. Sam. 16, 11.), aus den Hürden (bei Bethlehem) genom- men, um sein Volk zu waiden. Überhaupt lässt die My- thologie der alten Welt Landleuten 23) und Hirten 24) am 22) in Luc. 2. Bei Suicer 2, p. 789 f. 23) Servius ad Virg. Ecl. 10, 26. 24) Liban. progymn. p. 138, bei Wetstein S. 662.
Viertes Kapitel. §. 29. braucht, daſs die Hirten, welchen angeblich die Engel er-schienen, Eigenthümer des Stalles, in welchem Maria ge- bar, gewesen sein sollen. Was das Erste betrifft, mit wel- chem das Andere von selbst hinfällt, so beruht es auf der- selben Maschinerie, durch welche Lukas mittelst der Schat- zung die Eltern Jesu von Nazaret nach Bethlehem in Be- wegung setzt. Nun wissen wir aber, wie es mit dieser Schatzung steht: sie fällt ohne Rettung vor der Kritik da- hin, und mit ihr das auf sie gebaute Datum, daſs Jesus in einem Hirtenstalle geboren worden. Denn waren Jesu Eltern zu Bethlehem nicht fremd, und kamen sie nicht ge- rade bei einem groſsen Zusammenfluſs von Fremden, wie er aus Gelegenheit eines Census stattfinden konnte, dahin: so ist kein Anlaſs dazu mehr vorhanden, daſs Maria einen Stall zum Lokal ihrer Entbindung nehmen muſste. Aber ebenso stimmt andrerseits der Zug, daſs Jesus in einem Stalle geboren und zuerst von Hirten begrüſst worden sein soll, mit dem Geist der alten Sage so ganz überein, daſs es klar ist, wie sie veranlaſst sein konnte, ihn rein zu er- dichten. Schon Theophylakt deutet dieſs richtig an, wenn er sagt, nicht zu Jerusalem den Pharisäern und Schriftge- lehrten, welche aller Bosheit voll waren, sei der Engel er- schienen, sondern auf dem Felde den Hirten, wegen ihres einfachen, arglosen Wesens, und weil sie durch ihre Le- bensweise Nachfolger der alten Patriarchen gewesen seien 22). Auf dem Felde bei den Heerden hatte auch Moses die himm- lische Erscheinung (2. Mos. 3, 1 ff.), und den Ahnherrn des Messias, David, hatte Gott, nach Ps. 78, 70 f. (vergl. 1. Sam. 16, 11.), aus den Hürden (bei Bethlehem) genom- men, um sein Volk zu waiden. Überhaupt läſst die My- thologie der alten Welt Landleuten 23) und Hirten 24) am 22) in Luc. 2. Bei Suicer 2, p. 789 f. 23) Servius ad Virg. Ecl. 10, 26. 24) Liban. progymn. p. 138, bei Wetstein S. 662.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0239" n="215"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Viertes Kapitel</hi>. §. 29.</fw><lb/> braucht, daſs die Hirten, welchen angeblich die Engel er-<lb/> schienen, Eigenthümer des Stalles, in welchem Maria ge-<lb/> bar, gewesen sein sollen. Was das Erste betrifft, mit wel-<lb/> chem das Andere von selbst hinfällt, so beruht es auf der-<lb/> selben Maschinerie, durch welche Lukas mittelst der Schat-<lb/> zung die Eltern Jesu von Nazaret nach Bethlehem in Be-<lb/> wegung setzt. Nun wissen wir aber, wie es mit dieser<lb/> Schatzung steht: sie fällt ohne Rettung vor der Kritik da-<lb/> hin, und mit ihr das auf sie gebaute Datum, daſs Jesus<lb/> in einem Hirtenstalle geboren worden. Denn waren Jesu<lb/> Eltern zu Bethlehem nicht fremd, und kamen sie nicht ge-<lb/> rade bei einem groſsen Zusammenfluſs von Fremden, wie<lb/> er aus Gelegenheit eines Census stattfinden konnte, dahin: so<lb/> ist kein Anlaſs dazu mehr vorhanden, daſs Maria einen<lb/> Stall zum Lokal ihrer Entbindung nehmen muſste. Aber<lb/> ebenso stimmt andrerseits der Zug, daſs Jesus in einem<lb/> Stalle geboren und zuerst von Hirten begrüſst worden sein<lb/> soll, mit dem Geist der alten Sage so ganz überein, daſs<lb/> es klar ist, wie sie veranlaſst sein konnte, ihn rein zu er-<lb/> dichten. Schon Theophylakt deutet dieſs richtig an, wenn<lb/> er sagt, nicht zu Jerusalem den Pharisäern und Schriftge-<lb/> lehrten, welche aller Bosheit voll waren, sei der Engel er-<lb/> schienen, sondern auf dem Felde den Hirten, wegen ihres<lb/> einfachen, arglosen Wesens, und weil sie durch ihre Le-<lb/> bensweise Nachfolger der alten Patriarchen gewesen seien <note place="foot" n="22)">in Luc. 2. Bei <hi rendition="#k">Suicer</hi> 2, p. 789 f.</note>.<lb/> Auf dem Felde bei den Heerden hatte auch Moses die himm-<lb/> lische Erscheinung (2. Mos. 3, 1 ff.), und den Ahnherrn<lb/> des Messias, David, hatte Gott, nach Ps. 78, 70 f. (vergl.<lb/> 1. Sam. 16, 11.), aus den Hürden (bei Bethlehem) genom-<lb/> men, um sein Volk zu waiden. Überhaupt läſst die My-<lb/> thologie der alten Welt Landleuten <note place="foot" n="23)">Servius ad Virg. Ecl. 10, 26.</note> und Hirten <note place="foot" n="24)">Liban. progymn. p. 138, bei <hi rendition="#k">Wetstein</hi> S. 662.</note> am<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [215/0239]
Viertes Kapitel. §. 29.
braucht, daſs die Hirten, welchen angeblich die Engel er-
schienen, Eigenthümer des Stalles, in welchem Maria ge-
bar, gewesen sein sollen. Was das Erste betrifft, mit wel-
chem das Andere von selbst hinfällt, so beruht es auf der-
selben Maschinerie, durch welche Lukas mittelst der Schat-
zung die Eltern Jesu von Nazaret nach Bethlehem in Be-
wegung setzt. Nun wissen wir aber, wie es mit dieser
Schatzung steht: sie fällt ohne Rettung vor der Kritik da-
hin, und mit ihr das auf sie gebaute Datum, daſs Jesus
in einem Hirtenstalle geboren worden. Denn waren Jesu
Eltern zu Bethlehem nicht fremd, und kamen sie nicht ge-
rade bei einem groſsen Zusammenfluſs von Fremden, wie
er aus Gelegenheit eines Census stattfinden konnte, dahin: so
ist kein Anlaſs dazu mehr vorhanden, daſs Maria einen
Stall zum Lokal ihrer Entbindung nehmen muſste. Aber
ebenso stimmt andrerseits der Zug, daſs Jesus in einem
Stalle geboren und zuerst von Hirten begrüſst worden sein
soll, mit dem Geist der alten Sage so ganz überein, daſs
es klar ist, wie sie veranlaſst sein konnte, ihn rein zu er-
dichten. Schon Theophylakt deutet dieſs richtig an, wenn
er sagt, nicht zu Jerusalem den Pharisäern und Schriftge-
lehrten, welche aller Bosheit voll waren, sei der Engel er-
schienen, sondern auf dem Felde den Hirten, wegen ihres
einfachen, arglosen Wesens, und weil sie durch ihre Le-
bensweise Nachfolger der alten Patriarchen gewesen seien 22).
Auf dem Felde bei den Heerden hatte auch Moses die himm-
lische Erscheinung (2. Mos. 3, 1 ff.), und den Ahnherrn
des Messias, David, hatte Gott, nach Ps. 78, 70 f. (vergl.
1. Sam. 16, 11.), aus den Hürden (bei Bethlehem) genom-
men, um sein Volk zu waiden. Überhaupt läſst die My-
thologie der alten Welt Landleuten 23) und Hirten 24) am
22) in Luc. 2. Bei Suicer 2, p. 789 f.
23) Servius ad Virg. Ecl. 10, 26.
24) Liban. progymn. p. 138, bei Wetstein S. 662.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |