lich finden wollen, dass in einem Zeitpunkt, in welchem Gott dem Joseph anzeigen lässt, er sei zu Bethlehem nicht mehr vor Herodes sicher, demselben eine Reise nach Je- rusalem, also eigentlich in die Hände des Herodes hinein, zugelassen worden wäre. Jedenfalls hätte allen Betheilig- ten die strengste Vorsicht eingeschärft werden müssen, das Ruchtbarwerden der Anwesenheit des messianischen Kindes in Jerusalem zu verhüten. Solches ängstliche Incognito ist aber in der Erzählung des Lukas nirgends zu spüren, vielmehr macht nicht nur Simeon im Tempel auf Jesum aufmerksam, ohne vom Geist oder von den Eltern daran verhindert zu werden, sondern auch Hanna glaubt der gu- ten Sache einen Dienst zu thun, wenn sie die Kunde von dem neugeborenen Messias so sehr wie möglich verbreite (Luc. 2, 28. ff. 38.). Dass sie diess nur unter Gleichge- sinnten that (elalei peri autou pasi tois prosdekhomenois lutrosin en Ierousalem), konnte nicht verhindern, dass es nicht auch der herodischen Partei bekannt wurde, da eben, je grösser die Aufregung jener prosdekhomenoi durch solche Kunde wurde, desto mehr auch die Aufmerksamkeit der Regierung erregt werden, und so Jesus in die Hände des lauernden Herodes fallen musste.
In jedem Falle müsste sich also, wer die Darstellung im Tempel nach dem Besuch der Magier sezt, auch dazu vollends entschliessen, sie selbst bis nach der Rückkehr aus Ägypten zu verschieben. Allein auch dabei geht es nicht ohne Verstoss gegen die Berichte ab. Es müsste sich nämlich dieser Annahme zufolge zwischen der Geburt Jesu und seiner Darstellung im Tempel ereignet haben: die An- kunft der Magier; die Flucht nach Aegypten; der bethle- hemitische Kindermord; der Tod des Herodes; die Rück- kehr der Eltern Jesu aus Aegypten. Das ist aber für 40 Tage offenbar zu viel; man müsste daher annehmen, die Darstellung des Kindes und der erste Tempelbesuch der Wöchnerin sei über die gesetzliche Zeit hinaus verschoben
Erster Abschnitt.
lich finden wollen, daſs in einem Zeitpunkt, in welchem Gott dem Joseph anzeigen läſst, er sei zu Bethlehem nicht mehr vor Herodes sicher, demselben eine Reise nach Je- rusalem, also eigentlich in die Hände des Herodes hinein, zugelassen worden wäre. Jedenfalls hätte allen Betheilig- ten die strengste Vorsicht eingeschärft werden müssen, das Ruchtbarwerden der Anwesenheit des messianischen Kindes in Jerusalem zu verhüten. Solches ängstliche Incognito ist aber in der Erzählung des Lukas nirgends zu spüren, vielmehr macht nicht nur Simeon im Tempel auf Jesum aufmerksam, ohne vom Geist oder von den Eltern daran verhindert zu werden, sondern auch Hanna glaubt der gu- ten Sache einen Dienst zu thun, wenn sie die Kunde von dem neugeborenen Messias so sehr wie möglich verbreite (Luc. 2, 28. ff. 38.). Daſs sie dieſs nur unter Gleichge- sinnten that (ἐλάλει περὶ ἀυτοῦ πᾶσι τοῖς προςδεχομένοις λύτρωσιν ἐν Ἱερουσαλὴμ), konnte nicht verhindern, daſs es nicht auch der herodischen Partei bekannt wurde, da eben, je gröſser die Aufregung jener προςδεχόμενοι durch solche Kunde wurde, desto mehr auch die Aufmerksamkeit der Regierung erregt werden, und so Jesus in die Hände des lauernden Herodes fallen muſste.
In jedem Falle müſste sich also, wer die Darstellung im Tempel nach dem Besuch der Magier sezt, auch dazu vollends entschlieſsen, sie selbst bis nach der Rückkehr aus Ägypten zu verschieben. Allein auch dabei geht es nicht ohne Verstoſs gegen die Berichte ab. Es müſste sich nämlich dieser Annahme zufolge zwischen der Geburt Jesu und seiner Darstellung im Tempel ereignet haben: die An- kunft der Magier; die Flucht nach Aegypten; der bethle- hemitische Kindermord; der Tod des Herodes; die Rück- kehr der Eltern Jesu aus Aegypten. Das ist aber für 40 Tage offenbar zu viel; man müſste daher annehmen, die Darstellung des Kindes und der erste Tempelbesuch der Wöchnerin sei über die gesetzliche Zeit hinaus verschoben
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Erster Abschnitt.
lich finden wollen, daſs in einem Zeitpunkt, in welchem
Gott dem Joseph anzeigen läſst, er sei zu Bethlehem nicht
mehr vor Herodes sicher, demselben eine Reise nach Je-
rusalem, also eigentlich in die Hände des Herodes hinein,
zugelassen worden wäre. Jedenfalls hätte allen Betheilig-
ten die strengste Vorsicht eingeschärft werden müssen, das
Ruchtbarwerden der Anwesenheit des messianischen Kindes
in Jerusalem zu verhüten. Solches ängstliche Incognito
ist aber in der Erzählung des Lukas nirgends zu spüren,
vielmehr macht nicht nur Simeon im Tempel auf Jesum
aufmerksam, ohne vom Geist oder von den Eltern daran
verhindert zu werden, sondern auch Hanna glaubt der gu-
ten Sache einen Dienst zu thun, wenn sie die Kunde von
dem neugeborenen Messias so sehr wie möglich verbreite
(Luc. 2, 28. ff. 38.). Daſs sie dieſs nur unter Gleichge-
sinnten that (ἐλάλει περὶ ἀυτοῦ πᾶσι τοῖς προςδεχομένοις
λύτρωσιν ἐν Ἱερουσαλὴμ), konnte nicht verhindern, daſs
es nicht auch der herodischen Partei bekannt wurde, da
eben, je gröſser die Aufregung jener προςδεχόμενοι durch
solche Kunde wurde, desto mehr auch die Aufmerksamkeit
der Regierung erregt werden, und so Jesus in die Hände
des lauernden Herodes fallen muſste.
In jedem Falle müſste sich also, wer die Darstellung
im Tempel nach dem Besuch der Magier sezt, auch dazu
vollends entschlieſsen, sie selbst bis nach der Rückkehr
aus Ägypten zu verschieben. Allein auch dabei geht es
nicht ohne Verstoſs gegen die Berichte ab. Es müſste sich
nämlich dieser Annahme zufolge zwischen der Geburt Jesu
und seiner Darstellung im Tempel ereignet haben: die An-
kunft der Magier; die Flucht nach Aegypten; der bethle-
hemitische Kindermord; der Tod des Herodes; die Rück-
kehr der Eltern Jesu aus Aegypten. Das ist aber für 40
Tage offenbar zu viel; man müſste daher annehmen, die
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/280>, abgerufen am 22.11.2024.
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