welche namentlich seine Mutter dabei an den Tag gelegt haben soll, ist ebenso wenig ein Schluss zu gründen, da eben diese angeblichen Erwartungen und Äusserungen un- historisch sind. Mehr scheint auf die Angabe Luc. 2, 41. gebaut werden zu können, Jesu Eltern seien alle Jahre nach Jerusalem zum Paschafest gereist, wobei man ver- muthen könnte, dass auch Jesus vom zwölften Jahr an ge- wöhnlich mitgereist sein, und die treffliche Gelegenheit be- nüzt haben werde, sich unter dem Zusammenfluss von Ju- den und Judengenossen aus allen Ländern und von allen Gesinnungen und Ansichten auszubilden, den Zustand sei- nes Volkes, und die falschen Grundsätze der pharisäischen Leiter desselben kennen zu lernen, und seinen Blick über die engen Grenzen Palästina's hinaus zu erweitern 1). Doch ist auch das ein blosser Schluss aus einer flüchtigen Anga- be des Lukas, welcher überdiess vielleicht ein zu enges reli- giöses Band zwischen der Galilaia ton ethnon und Jeru- salem voraussezt.
Ob und in wie weit Jesus die gelehrte Bildung eines Rabbinen erhalten habe, ist gleichfalls in unsern kanoni- schen Evangelien nicht gesagt. Aus Stellen wie Matth. 7, 29., dass Jesus gelehrt habe oukh os oi grammateis, ist nur zu schliessen, dass er die Methode der Schriftgelehrten nicht zu der seinigen gemacht, nicht aber, dass er die Bildung eines grammateus nicht genossen habe. Freilich scheint an- drerseits aus dem Datum, dass Jesus nicht blos von seinen Schülern (Matth. 26, 25. 49. Marc. 9, 5. 11, 21. 14, 45. Joh. 4, 31. 9, 2. 11, 8. 20, 16. vergl. 1, 38. 40. 50.) und von flehenden Hülfsbedürftigen (Marc. 10, 51.) Rabbi und Rabbouni genannt wurde, sondern dass ihm auch der phari- säische arkhon Nikodemus (Joh. 3, 2.) und selbst seine Feinde (Joh. 6, 25.) diesen Titel nicht versagten, ebenso- wenig zu folgen, dass er die schulmässige Bildung eines
1)Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 273 ff.
Fünftes Kapitel. §. 39.
welche namentlich seine Mutter dabei an den Tag gelegt haben soll, ist ebenso wenig ein Schluſs zu gründen, da eben diese angeblichen Erwartungen und Äusserungen un- historisch sind. Mehr scheint auf die Angabe Luc. 2, 41. gebaut werden zu können, Jesu Eltern seien alle Jahre nach Jerusalem zum Paschafest gereist, wobei man ver- muthen könnte, daſs auch Jesus vom zwölften Jahr an ge- wöhnlich mitgereist sein, und die treffliche Gelegenheit be- nüzt haben werde, sich unter dem Zusammenfluſs von Ju- den und Judengenossen aus allen Ländern und von allen Gesinnungen und Ansichten auszubilden, den Zustand sei- nes Volkes, und die falschen Grundsätze der pharisäischen Leiter desselben kennen zu lernen, und seinen Blick über die engen Grenzen Palästina's hinaus zu erweitern 1). Doch ist auch das ein bloſser Schluſs aus einer flüchtigen Anga- be des Lukas, welcher überdieſs vielleicht ein zu enges reli- giöses Band zwischen der Γαλιλαία τῶν ἐϑνῶν und Jeru- salem voraussezt.
Ob und in wie weit Jesus die gelehrte Bildung eines Rabbinen erhalten habe, ist gleichfalls in unsern kanoni- schen Evangelien nicht gesagt. Aus Stellen wie Matth. 7, 29., daſs Jesus gelehrt habe ούχ ὡς οἱ γραμματεῖς, ist nur zu schlieſsen, daſs er die Methode der Schriftgelehrten nicht zu der seinigen gemacht, nicht aber, daſs er die Bildung eines γραμματεὺς nicht genossen habe. Freilich scheint an- drerseits aus dem Datum, daſs Jesus nicht blos von seinen Schülern (Matth. 26, 25. 49. Marc. 9, 5. 11, 21. 14, 45. Joh. 4, 31. 9, 2. 11, 8. 20, 16. vergl. 1, 38. 40. 50.) und von flehenden Hülfsbedürftigen (Marc. 10, 51.) ῥαββὶ und ῥαββουνὶ genannt wurde, sondern daſs ihm auch der phari- säische αρχων Nikodemus (Joh. 3, 2.) und selbst seine Feinde (Joh. 6, 25.) diesen Titel nicht versagten, ebenso- wenig zu folgen, daſs er die schulmäſsige Bildung eines
1)Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 273 ff.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0323"n="299"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Fünftes Kapitel</hi>. §. 39.</fw><lb/>
welche namentlich seine Mutter dabei an den Tag gelegt<lb/>
haben soll, ist ebenso wenig ein Schluſs zu gründen, da<lb/>
eben diese angeblichen Erwartungen und Äusserungen un-<lb/>
historisch sind. Mehr scheint auf die Angabe Luc. 2, 41.<lb/>
gebaut werden zu können, Jesu Eltern seien alle Jahre<lb/>
nach Jerusalem zum Paschafest gereist, wobei man ver-<lb/>
muthen könnte, daſs auch Jesus vom zwölften Jahr an ge-<lb/>
wöhnlich mitgereist sein, und die treffliche Gelegenheit be-<lb/>
nüzt haben werde, sich unter dem Zusammenfluſs von Ju-<lb/>
den und Judengenossen aus allen Ländern und von allen<lb/>
Gesinnungen und Ansichten auszubilden, den Zustand sei-<lb/>
nes Volkes, und die falschen Grundsätze der pharisäischen<lb/>
Leiter desselben kennen zu lernen, und seinen Blick über<lb/>
die engen Grenzen Palästina's hinaus zu erweitern <noteplace="foot"n="1)"><hirendition="#k">Paulus</hi>, exeg. Handb. 1, a, S. 273 ff.</note>. Doch<lb/>
ist auch das ein bloſser Schluſs aus einer flüchtigen Anga-<lb/>
be des Lukas, welcher überdieſs vielleicht ein zu enges reli-<lb/>
giöses Band zwischen der <foreignxml:lang="ell">Γαλιλαίατῶνἐϑνῶν</foreign> und Jeru-<lb/>
salem voraussezt.</p><lb/><p>Ob und in wie weit Jesus die gelehrte Bildung eines<lb/>
Rabbinen erhalten habe, ist gleichfalls in unsern kanoni-<lb/>
schen Evangelien nicht gesagt. Aus Stellen wie Matth. 7,<lb/>
29., daſs Jesus gelehrt habe <foreignxml:lang="ell">ούχὡςοἱγραμματεῖς</foreign>, ist nur zu<lb/>
schlieſsen, daſs er die Methode der Schriftgelehrten nicht<lb/>
zu der seinigen gemacht, nicht aber, daſs er die Bildung<lb/>
eines γραμματεὺς nicht genossen habe. Freilich scheint an-<lb/>
drerseits aus dem Datum, daſs Jesus nicht blos von seinen<lb/>
Schülern (Matth. 26, 25. 49. Marc. 9, 5. 11, 21. 14, 45.<lb/>
Joh. 4, 31. 9, 2. 11, 8. 20, 16. vergl. 1, 38. 40. 50.) und<lb/>
von flehenden Hülfsbedürftigen (Marc. 10, 51.) <foreignxml:lang="ell">ῥαββὶ</foreign> und<lb/><foreignxml:lang="ell">ῥαββουνὶ</foreign> genannt wurde, sondern daſs ihm auch der phari-<lb/>
säische <foreignxml:lang="ell">αρχων</foreign> Nikodemus (Joh. 3, 2.) und selbst seine<lb/>
Feinde (Joh. 6, 25.) diesen Titel nicht versagten, ebenso-<lb/>
wenig zu folgen, daſs er die schulmäſsige Bildung eines<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[299/0323]
Fünftes Kapitel. §. 39.
welche namentlich seine Mutter dabei an den Tag gelegt
haben soll, ist ebenso wenig ein Schluſs zu gründen, da
eben diese angeblichen Erwartungen und Äusserungen un-
historisch sind. Mehr scheint auf die Angabe Luc. 2, 41.
gebaut werden zu können, Jesu Eltern seien alle Jahre
nach Jerusalem zum Paschafest gereist, wobei man ver-
muthen könnte, daſs auch Jesus vom zwölften Jahr an ge-
wöhnlich mitgereist sein, und die treffliche Gelegenheit be-
nüzt haben werde, sich unter dem Zusammenfluſs von Ju-
den und Judengenossen aus allen Ländern und von allen
Gesinnungen und Ansichten auszubilden, den Zustand sei-
nes Volkes, und die falschen Grundsätze der pharisäischen
Leiter desselben kennen zu lernen, und seinen Blick über
die engen Grenzen Palästina's hinaus zu erweitern 1). Doch
ist auch das ein bloſser Schluſs aus einer flüchtigen Anga-
be des Lukas, welcher überdieſs vielleicht ein zu enges reli-
giöses Band zwischen der Γαλιλαία τῶν ἐϑνῶν und Jeru-
salem voraussezt.
Ob und in wie weit Jesus die gelehrte Bildung eines
Rabbinen erhalten habe, ist gleichfalls in unsern kanoni-
schen Evangelien nicht gesagt. Aus Stellen wie Matth. 7,
29., daſs Jesus gelehrt habe ούχ ὡς οἱ γραμματεῖς, ist nur zu
schlieſsen, daſs er die Methode der Schriftgelehrten nicht
zu der seinigen gemacht, nicht aber, daſs er die Bildung
eines γραμματεὺς nicht genossen habe. Freilich scheint an-
drerseits aus dem Datum, daſs Jesus nicht blos von seinen
Schülern (Matth. 26, 25. 49. Marc. 9, 5. 11, 21. 14, 45.
Joh. 4, 31. 9, 2. 11, 8. 20, 16. vergl. 1, 38. 40. 50.) und
von flehenden Hülfsbedürftigen (Marc. 10, 51.) ῥαββὶ und
ῥαββουνὶ genannt wurde, sondern daſs ihm auch der phari-
säische αρχων Nikodemus (Joh. 3, 2.) und selbst seine
Feinde (Joh. 6, 25.) diesen Titel nicht versagten, ebenso-
wenig zu folgen, daſs er die schulmäſsige Bildung eines
1) Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 273 ff.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/323>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.