Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Zweites Kapitel. §. 45. es diess, dass sie, die Unterscheidung zwischen dem, wasder Mensch als einzelner und was er als Glied der Gesammt- heit ist, auf Jesum anwendend, behaupten, für sich selbst zwar habe er keine metanoia nöthig gehabt, wohl aber das Bewusstsein, dass sie bei allen andern Menschen, auch seine Volksgenossen, die Nachkommen Abrahams, nicht ausgenommen, nothwendig sei, und um für ein diese Wahr- heit bethätigendes Institut seine Billigung auszusprechen, habe sich Jesus demselben gleichfalls unterworfen. Allein man stelle sich nur die Sache genauer vor. Nach Matth. 3, 6. scheint Johannes vor der Taufe ein Sündenbekenntniss ver- langt zu haben: ablegen konnte Jesus, als sündlos vor- ausgesezt, ein solches ohne Unwahrheit nicht; verweigerte er es, so taufte ihn Johannes schwerlich, denn für den Messias hielt er ihn vorher nicht und bei jedem andern Israe- liten musste er ein Sündenbekenntniss für nöthig halten. Wollte also Jesus keines ablegen, so müsste sich wohl hier- über der Streit entsponnen haben, welchem Matthäus eine ganz andre Beziehung giebt; aber freilich, wenn das die- koluen des Johannes durch eine solche Weigerung Jesu veranlasst gewesen wäre, so würde sich die Sache schwer- lich durch ein blosses o[u]to prepon esin haben abmachen las- sen, sondern eben das plerooai pasan dikaiosunen würde der Täufer vermisst haben, wenn kein Sündenbekenntniss abgelegt war. Indessen, wenn auch vielleicht nicht jeder einzelne Täufling ein solches Bekenntniss ablegen musste: so hat doch wohl Johannes bei Vollziehung der Taufhand- lung nicht ganz geschwiegen, sondern den Täufling mit Wor- ten angeredet, welche sich auf die metanoia bezogen. Konn- te Jesus solche Worte über sich sprechen lassen, wenn er sich bewusst war, keine Sinnesänderung nöthig zu haben? und machte er dadurch, dass er von sich als ei- nem Sünder reden liess, nicht die Gemüther irre, welche nachher an ihn als den Sündlosen glauben sollten? Las- sen wir aber selbst auch die Behauptung fallen, dass Jo- Zweites Kapitel. §. 45. es dieſs, daſs sie, die Unterscheidung zwischen dem, wasder Mensch als einzelner und was er als Glied der Gesammt- heit ist, auf Jesum anwendend, behaupten, für sich selbst zwar habe er keine μετάνοια nöthig gehabt, wohl aber das Bewuſstsein, daſs sie bei allen andern Menschen, auch seine Volksgenossen, die Nachkommen Abrahams, nicht ausgenommen, nothwendig sei, und um für ein diese Wahr- heit bethätigendes Institut seine Billigung auszusprechen, habe sich Jesus demselben gleichfalls unterworfen. Allein man stelle sich nur die Sache genauer vor. Nach Matth. 3, 6. scheint Johannes vor der Taufe ein Sündenbekenntniſs ver- langt zu haben: ablegen konnte Jesus, als sündlos vor- ausgesezt, ein solches ohne Unwahrheit nicht; verweigerte er es, so taufte ihn Johannes schwerlich, denn für den Messias hielt er ihn vorher nicht und bei jedem andern Israë- liten muſste er ein Sündenbekenntniſs für nöthig halten. Wollte also Jesus keines ablegen, so müſste sich wohl hier- über der Streit entsponnen haben, welchem Matthäus eine ganz andre Beziehung giebt; aber freilich, wenn das διε- κώλυεν des Johannes durch eine solche Weigerung Jesu veranlaſst gewesen wäre, so würde sich die Sache schwer- lich durch ein bloſses ο[ὕ]τω πρέπον ἐςὶν haben abmachen las- sen, sondern eben das πληρῶοαι πᾶσαν δικαιοσυνην würde der Täufer vermiſst haben, wenn kein Sündenbekenntniſs abgelegt war. Indessen, wenn auch vielleicht nicht jeder einzelne Täufling ein solches Bekenntniſs ablegen muſste: so hat doch wohl Johannes bei Vollziehung der Taufhand- lung nicht ganz geschwiegen, sondern den Täufling mit Wor- ten angeredet, welche sich auf die μετάνοια bezogen. Konn- te Jesus solche Worte über sich sprechen lassen, wenn er sich bewuſst war, keine Sinnesänderung nöthig zu haben? und machte er dadurch, daſs er von sich als ei- nem Sünder reden lieſs, nicht die Gemüther irre, welche nachher an ihn als den Sündlosen glauben sollten? 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Zweites Kapitel. §. 45.
es dieſs, daſs sie, die Unterscheidung zwischen dem, was
der Mensch als einzelner und was er als Glied der Gesammt-
heit ist, auf Jesum anwendend, behaupten, für sich selbst
zwar habe er keine μετάνοια nöthig gehabt, wohl aber
das Bewuſstsein, daſs sie bei allen andern Menschen,
auch seine Volksgenossen, die Nachkommen Abrahams, nicht
ausgenommen, nothwendig sei, und um für ein diese Wahr-
heit bethätigendes Institut seine Billigung auszusprechen,
habe sich Jesus demselben gleichfalls unterworfen. Allein
man stelle sich nur die Sache genauer vor. Nach Matth. 3, 6.
scheint Johannes vor der Taufe ein Sündenbekenntniſs ver-
langt zu haben: ablegen konnte Jesus, als sündlos vor-
ausgesezt, ein solches ohne Unwahrheit nicht; verweigerte
er es, so taufte ihn Johannes schwerlich, denn für den
Messias hielt er ihn vorher nicht und bei jedem andern Israë-
liten muſste er ein Sündenbekenntniſs für nöthig halten.
Wollte also Jesus keines ablegen, so müſste sich wohl hier-
über der Streit entsponnen haben, welchem Matthäus eine
ganz andre Beziehung giebt; aber freilich, wenn das διε-
κώλυεν des Johannes durch eine solche Weigerung Jesu
veranlaſst gewesen wäre, so würde sich die Sache schwer-
lich durch ein bloſses οὕτω πρέπον ἐςὶν haben abmachen las-
sen, sondern eben das πληρῶοαι πᾶσαν δικαιοσυνην würde
der Täufer vermiſst haben, wenn kein Sündenbekenntniſs
abgelegt war. Indessen, wenn auch vielleicht nicht jeder
einzelne Täufling ein solches Bekenntniſs ablegen muſste:
so hat doch wohl Johannes bei Vollziehung der Taufhand-
lung nicht ganz geschwiegen, sondern den Täufling mit Wor-
ten angeredet, welche sich auf die μετάνοια bezogen. Konn-
te Jesus solche Worte über sich sprechen lassen, wenn
er sich bewuſst war, keine Sinnesänderung nöthig zu
haben? und machte er dadurch, daſs er von sich als ei-
nem Sünder reden lieſs, nicht die Gemüther irre, welche
nachher an ihn als den Sündlosen glauben sollten? Las-
sen wir aber selbst auch die Behauptung fallen, daſs Jo-
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