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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
er stelle die Erscheinung bei der Taufe Jesu als etwas
ganz Objektives dar und gebe durch den Zusatz: somatiko
eidei dem osei periseran ein so starkes leibliches Gewicht,
dass man nicht zweifeln könne, er habe dabei bestimmt
an eine äussere Erscheinung der Taube als Symbols des
Geistes gedacht 7). Um also die Auffassung des Phänomens
bei der Taufe Jesu als einer Vision möglich zu machen,
muss, scheint es, gegen die Auktorität Eines Evangelisten
die Glaubwürdigkeit aller übrigen in dieser Erzählung auf-
geopfert werden, wie diess der zulezt angeführte Ausleger
wirklich thut, indem er, unerachtet die synoptischen Be-
richte, wie er sich ausdrückt, doch auch Glauben ver-
dienen, dieselben dennoch, je nach dem Grade ihrer Abwei-
chung von Johannes, für weniger sicher erklärt. Allein
ein solches Verwerfen eines Theils der Berichte ist auf or-
thodoxem, wie auf dem Standpunkt der natürlichen Erklä-
rung inconsequent, weil, sobald man einmal eines unsrer
kanonischen Evangelien kritisch verdächtigt, dann, vermöge
der Gleichheit der äusseren Begründung ihrer Glaubwür-
digkeit, und ihrer inneren Verwandtschaft ein gleiches
Verfahren auch gegen die übrigen möglich wird, wodurch
sodann dem Erklärer alles supranaturalistische wie natura-
listische Deuten erspart, und er auf die mythische Auffas-
sung angewiesen ist. Diess hat Olshausen richtig gefühlt,
wenn er der Relation der Synoptiker und namentlich des
Lukas insoweit nachgiebt, dass er eine Volksmenge bei dem
Vorgange zugegen sein und dieselbe auch etwas sehen
und hören lässt, doch nur etwas Unbestimmtes und Un-
verstandenes 8). Hiemit wird die Sache einerseits aus dem
Gebiete subjektiver Vision wieder auf das des objektiven
Geschehens hinübergespielt; indem aber andrerseits die er-
schienene Taube nicht dem physischen, sondern nur dem

7) Commentar zum Evang. Joh. 1, S. 370.
8) Bibl. Comm. 1, S. 177 f.

Zweiter Abschnitt.
er stelle die Erscheinung bei der Taufe Jesu als etwas
ganz Objektives dar und gebe durch den Zusatz: σωματικῷ
εἴδει dem ὡσεὶ περιςερὰν ein so starkes leibliches Gewicht,
daſs man nicht zweifeln könne, er habe dabei bestimmt
an eine äussere Erscheinung der Taube als Symbols des
Geistes gedacht 7). Um also die Auffassung des Phänomens
bei der Taufe Jesu als einer Vision möglich zu machen,
muſs, scheint es, gegen die Auktorität Eines Evangelisten
die Glaubwürdigkeit aller übrigen in dieser Erzählung auf-
geopfert werden, wie dieſs der zulezt angeführte Ausleger
wirklich thut, indem er, unerachtet die synoptischen Be-
richte, wie er sich ausdrückt, doch auch Glauben ver-
dienen, dieselben dennoch, je nach dem Grade ihrer Abwei-
chung von Johannes, für weniger sicher erklärt. Allein
ein solches Verwerfen eines Theils der Berichte ist auf or-
thodoxem, wie auf dem Standpunkt der natürlichen Erklä-
rung inconsequent, weil, sobald man einmal eines unsrer
kanonischen Evangelien kritisch verdächtigt, dann, vermöge
der Gleichheit der äusseren Begründung ihrer Glaubwür-
digkeit, und ihrer inneren Verwandtschaft ein gleiches
Verfahren auch gegen die übrigen möglich wird, wodurch
sodann dem Erklärer alles supranaturalistische wie natura-
listische Deuten erspart, und er auf die mythische Auffas-
sung angewiesen ist. Dieſs hat Olshausen richtig gefühlt,
wenn er der Relation der Synoptiker und namentlich des
Lukas insoweit nachgiebt, daſs er eine Volksmenge bei dem
Vorgange zugegen sein und dieselbe auch etwas sehen
und hören läſst, doch nur etwas Unbestimmtes und Un-
verstandenes 8). Hiemit wird die Sache einerseits aus dem
Gebiete subjektiver Vision wieder auf das des objektiven
Geschehens hinübergespielt; indem aber andrerseits die er-
schienene Taube nicht dem physischen, sondern nur dem

7) Commentar zum Evang. Joh. 1, S. 370.
8) Bibl. Comm. 1, S. 177 f.
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[378/0402] Zweiter Abschnitt. er stelle die Erscheinung bei der Taufe Jesu als etwas ganz Objektives dar und gebe durch den Zusatz: σωματικῷ εἴδει dem ὡσεὶ περιςερὰν ein so starkes leibliches Gewicht, daſs man nicht zweifeln könne, er habe dabei bestimmt an eine äussere Erscheinung der Taube als Symbols des Geistes gedacht 7). Um also die Auffassung des Phänomens bei der Taufe Jesu als einer Vision möglich zu machen, muſs, scheint es, gegen die Auktorität Eines Evangelisten die Glaubwürdigkeit aller übrigen in dieser Erzählung auf- geopfert werden, wie dieſs der zulezt angeführte Ausleger wirklich thut, indem er, unerachtet die synoptischen Be- richte, wie er sich ausdrückt, doch auch Glauben ver- dienen, dieselben dennoch, je nach dem Grade ihrer Abwei- chung von Johannes, für weniger sicher erklärt. Allein ein solches Verwerfen eines Theils der Berichte ist auf or- thodoxem, wie auf dem Standpunkt der natürlichen Erklä- rung inconsequent, weil, sobald man einmal eines unsrer kanonischen Evangelien kritisch verdächtigt, dann, vermöge der Gleichheit der äusseren Begründung ihrer Glaubwür- digkeit, und ihrer inneren Verwandtschaft ein gleiches Verfahren auch gegen die übrigen möglich wird, wodurch sodann dem Erklärer alles supranaturalistische wie natura- listische Deuten erspart, und er auf die mythische Auffas- sung angewiesen ist. Dieſs hat Olshausen richtig gefühlt, wenn er der Relation der Synoptiker und namentlich des Lukas insoweit nachgiebt, daſs er eine Volksmenge bei dem Vorgange zugegen sein und dieselbe auch etwas sehen und hören läſst, doch nur etwas Unbestimmtes und Un- verstandenes 8). Hiemit wird die Sache einerseits aus dem Gebiete subjektiver Vision wieder auf das des objektiven Geschehens hinübergespielt; indem aber andrerseits die er- schienene Taube nicht dem physischen, sondern nur dem 7) Commentar zum Evang. Joh. 1, S. 370. 8) Bibl. Comm. 1, S. 177 f.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/402>, abgerufen am 22.11.2024.