Es scheint der Entwicklungsgang dieser Vorstellungen folgender gewesen zu sein. Als man unter den Juden zu- erst anfieng, die messianische Würde Jesu anzuerkennen, glaubte man seine Ausrüstung mit den erforderlichen Ga- ben am schicklichsten an den Zeitpunkt zu knüpfen, von welchem an Jesus erst einigermassen bekannt geworden war, und welcher sich zugleich durch die in denselben fal- lende Ceremonie am besten zu einer solchen Salbung mit dem heiligen Geiste eignete, wie sie die Juden bei dem Messias erwarteten, und auf diesem Standpunkte bildete sich unsre Sage von den Vorgängen bei Jesu Taufe aus. Wie aber die Verehrung gegen Jesum stieg, und zugleich Männer in die christliche Gemeinde traten, welche mit hö- heren Messiasideen bekannt waren, genügte diese spät ent- standene Messianität Jesu nicht mehr, es wurde sein Ver- hältniss zum pneuma agion schon auf seine Empfängniss zu- rückdatirt, und von diesem Standpunkt aus wurde die Sage von der übernatürlichen Erzeugung Jesu gebildet. Hier dürfte es auch gewesen sein, wo die Himmelsstimme, wel- che ursprünglich nach Ps. 2, 7. gelautet haben mag, nach Jes. 42, 1. umgestaltet wurde. Denn die Worte: semeron geg[en]neka se hatten zwar ihren angemessenen Sinn bei der Ansicht, dass Jesus eben erst bei der Taufe zum uios theou gemacht, und mit den entsprechenden Kräften ausgestattet worden sei; aber sie passten nicht mehr zur Taufe Jesu, nachdem die Ansicht entstanden war, dass schon sein er- ster Lebensanfang auf göttlicher Zeugung beruht habe. Durch diese spätere Vorstellung jedoch wurde die frühere keineswegs verdrängt, sondern, wie die Sage und der mit ihr auf gleichem Standpunkt stehende Schriftsteller weit- herzig ist, giengen beide Erzählungen, die von den Wun- dern bei Jesu Taufe und die von seiner wundervollen Er- zeugung oder der Einwohnung des logos in ihm von Le- bensanfang an, wiewohl sie sich eigentlich ausschliessen, friedlich neben einander her, und wurden so auch von un-
Zweites Kapitel. §. 48.
Es scheint der Entwicklungsgang dieser Vorstellungen folgender gewesen zu sein. Als man unter den Juden zu- erst anfieng, die messianische Würde Jesu anzuerkennen, glaubte man seine Ausrüstung mit den erforderlichen Ga- ben am schicklichsten an den Zeitpunkt zu knüpfen, von welchem an Jesus erst einigermaſsen bekannt geworden war, und welcher sich zugleich durch die in denselben fal- lende Ceremonie am besten zu einer solchen Salbung mit dem heiligen Geiste eignete, wie sie die Juden bei dem Messias erwarteten, und auf diesem Standpunkte bildete sich unsre Sage von den Vorgängen bei Jesu Taufe aus. Wie aber die Verehrung gegen Jesum stieg, und zugleich Männer in die christliche Gemeinde traten, welche mit hö- heren Messiasideen bekannt waren, genügte diese spät ent- standene Messianität Jesu nicht mehr, es wurde sein Ver- hältniſs zum πνεῦμα ἅγιον schon auf seine Empfängniſs zu- rückdatirt, und von diesem Standpunkt aus wurde die Sage von der übernatürlichen Erzeugung Jesu gebildet. Hier dürfte es auch gewesen sein, wo die Himmelsstimme, wel- che ursprünglich nach Ps. 2, 7. gelautet haben mag, nach Jes. 42, 1. umgestaltet wurde. Denn die Worte: σήμερον γεγ[έν]νηκά σε hatten zwar ihren angemessenen Sinn bei der Ansicht, daſs Jesus eben erst bei der Taufe zum υἱὸς ϑεοῦ gemacht, und mit den entsprechenden Kräften ausgestattet worden sei; aber sie paſsten nicht mehr zur Taufe Jesu, nachdem die Ansicht entstanden war, daſs schon sein er- ster Lebensanfang auf göttlicher Zeugung beruht habe. Durch diese spätere Vorstellung jedoch wurde die frühere keineswegs verdrängt, sondern, wie die Sage und der mit ihr auf gleichem Standpunkt stehende Schriftsteller weit- herzig ist, giengen beide Erzählungen, die von den Wun- dern bei Jesu Taufe und die von seiner wundervollen Er- zeugung oder der Einwohnung des λόγος in ihm von Le- bensanfang an, wiewohl sie sich eigentlich ausschlieſsen, friedlich neben einander her, und wurden so auch von un-
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Zweites Kapitel. §. 48.
Es scheint der Entwicklungsgang dieser Vorstellungen
folgender gewesen zu sein. Als man unter den Juden zu-
erst anfieng, die messianische Würde Jesu anzuerkennen,
glaubte man seine Ausrüstung mit den erforderlichen Ga-
ben am schicklichsten an den Zeitpunkt zu knüpfen, von
welchem an Jesus erst einigermaſsen bekannt geworden
war, und welcher sich zugleich durch die in denselben fal-
lende Ceremonie am besten zu einer solchen Salbung mit
dem heiligen Geiste eignete, wie sie die Juden bei dem
Messias erwarteten, und auf diesem Standpunkte bildete
sich unsre Sage von den Vorgängen bei Jesu Taufe aus.
Wie aber die Verehrung gegen Jesum stieg, und zugleich
Männer in die christliche Gemeinde traten, welche mit hö-
heren Messiasideen bekannt waren, genügte diese spät ent-
standene Messianität Jesu nicht mehr, es wurde sein Ver-
hältniſs zum πνεῦμα ἅγιον schon auf seine Empfängniſs zu-
rückdatirt, und von diesem Standpunkt aus wurde die Sage
von der übernatürlichen Erzeugung Jesu gebildet. Hier
dürfte es auch gewesen sein, wo die Himmelsstimme, wel-
che ursprünglich nach Ps. 2, 7. gelautet haben mag, nach
Jes. 42, 1. umgestaltet wurde. Denn die Worte: σήμερον
γεγέννηκά σε hatten zwar ihren angemessenen Sinn bei der
Ansicht, daſs Jesus eben erst bei der Taufe zum υἱὸς ϑεοῦ
gemacht, und mit den entsprechenden Kräften ausgestattet
worden sei; aber sie paſsten nicht mehr zur Taufe Jesu,
nachdem die Ansicht entstanden war, daſs schon sein er-
ster Lebensanfang auf göttlicher Zeugung beruht habe.
Durch diese spätere Vorstellung jedoch wurde die frühere
keineswegs verdrängt, sondern, wie die Sage und der mit
ihr auf gleichem Standpunkt stehende Schriftsteller weit-
herzig ist, giengen beide Erzählungen, die von den Wun-
dern bei Jesu Taufe und die von seiner wundervollen Er-
zeugung oder der Einwohnung des λόγος in ihm von Le-
bensanfang an, wiewohl sie sich eigentlich ausschlieſsen,
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/419>, abgerufen am 21.11.2024.
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